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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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seiner Softball-Mannschaft; Delia erzählte er, er
habe gehört, daß sie eine böse Nachhilfelehrerin sei.
    »Böse!« sagte Delia.
    »Das heißt« gut. Er sah zu ihr
hoch, während er sich Gummihandschuhe überstreifte. »Wenigstens bei T. J.
Renfro, genau wie ›mies‹. Sie bringen einem miese Gleichungen bei, behauptet
er.«
    »Oh«, sagte Delia erleichtert.
    Ellie, die ein
Erste-Hilfe-Plakat studierte, sah zu ihr herüber. »Sie geben Nachhilfe für
Underwood?« fragte sie.
    »Ja.«
    Sie schniefte. »Joels Traum«,
sagte sie. »Mir hat er ständig damit in den Ohren gelegen.«
    Dr. Norman warf Ellie einen
schnellen Blick zu, den sie wahrscheinlich nicht bemerkte.
    Dann sagte er zu Noah:
»Verzeihung, mein Sohn«, und machte einen Schritt um ihn herum und widmete sich
wieder Delias Stirn. »Das brennt jetzt ein bißchen«, sagte er und riß die Hülle
eines sterilen Tupfers auf. Der durchdringende, strenge Geruch erfüllte sie mit
Sehnsucht. Ich bin nicht bloß eine Patientin. Ich kenne diese Praxis bis in
den letzten Winkel! Ich weiß, daß Sie heute beim Abendessen erzählen, daß Ellie
Miller, dafür, daß sie sich von ihrem Mann getrennt hat, noch ganz schön
besitzergreifend ist. Ich weiß, Sie erzählen, daß Sie endlich seine
Haushälterin kennengelernt haben, und je nachdem wie verschwiegen Sie sind,
mutmaßen Sie sogar darüber, wie die Verletzung zustande kam. Denken Sie bloß
nicht, ich bin eine von den ganz Ahnungslosen, die nicht wissen, was hinter dem
weißen Kittel steckt!
    Aber natürlich sagte sie nichts
dergleichen, und Dr. Norman betupfte ihre Wunde, sie spürte seine warmen,
federnden Fingerspitzen auf den klaffenden Rändern. »Was Sie da haben«, sagte
er, »ist eine oberflächliche Schramme über der Stirn, an der Schläfe jedoch
einen ziemlich tiefen Riß. Wir brauchen nicht zu nähen, und ich glaube auch
nicht, daß eine Narbe bleibt, wenn wir die Wundränder beim Verheilen
zusammenhalten.« Er drehte sich zum Schrank hin. »Wir kleben einfach ein
Klipflaster drauf. Das ist was ganz Raffiniertes...«
    Delia wußte doch, was ein
Klipflaster war — mehr als einmal hatte sie ihre eigenen Kinder damit
verarztet. Sie schloß die Augen, als er es aufklebte. Neben sich hörte sie Noah
atmen; er lehnte sich herüber, um alles sehen zu können.
    »Wow!« sagte er.
    »Wenn Sie wollen, verschreibe
ich Ihnen ein Schmerzmittel«, bot Dr. Norman an, »aber ich glaube nicht — «
    »Es tut kaum weh«, erklärte
Delia und öffnete die Augen. »Ich brauche nichts.«
    Er kritzelte eine Notiz für
seine Sprechstundenhilfe, bevor er sie hinausbegleitete; gab Noah einen Klaps
auf die Schulter und sagte: »Ellie, ich stelle mit Freuden fest, daß bei deiner
Figur alles gut zur Geltung kommt.«
    »Oh, komm«, sagte Ellie. Delia
erklärte sie: »Alle nehmen mich auf den Arm, weil ich das in Neues aus der
Nachbarschaft gesagt habe.«
    Delia sagte nur: »Oh?«, sie wollte
nicht zeigen, daß sie es auch gelesen hatte.
    »Aber sie haben mich falsch
zitiert!« schimpfte Ellie. »Oder wenigstens habe ich es nicht so gemeint. Ich
wollte sagen, daß meine Kleider alle nicht viel kosten.«
    Sie redete immer noch davon — erklärte
Noah, daß ihr Rock, zum Beispiel, dreizehn fünfundneunzig bei ›Teeny Welt‹
gekostet habe — , als sie wieder am Eingang waren, wo Delia die Rechnung
bezahlte. Eigentlich hätte Ellie das übernehmen können. Aber da sie das sowieso
nicht zugelassen hätte, hielt sie den Mund.
    Draußen auf der Veranda legte
sie das Sweatshirt zusammen und stopfte es in ihre Tasche. Ellie ließ sich über
das Kleidergeld einer Person namens Doris aus. Doris? Oh, ja, die
Nachrichtensprecherin bei WKMD. »Was bei der schon ein Stirnband kostet«, sagte
Ellie, »von den Schals ganz abgesehen, die sie trägt, weil ihr Hals so faltig
ist...«
    Delia dachte, vielleicht hätte
sie sich doch noch etwas verschreiben lassen sollen, nicht für ihre Stirn,
sondern für ihren Knöchel. Den verstauchten Knöchel hatte sie bis dahin völlig
vergessen. Sie hinkte unter Schmerzen zum Wagen und fiel mit einem Plumps auf
den Beifahrersitz.
    »Ich nehme an, ihr wollt nach
Hause«, sagte Ellie.
    »Bitte«, erklärte Delia.
    Aber Ellie hatte eigentlich
Noah gemeint. »Herzchen?« sagte sie und beobachtete sein Gesicht im
Rückspiegel.
    »Stimmt«, sagte er.
    »Hast du nicht noch Lust, mich
zu besuchen?«
    »Ich muß für den Geschichtstest
lernen.«
    Ellie ließ die Schultern
hängen. Sie erwiderte nicht, daß er das

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