Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
Vom Netzwerk:
genausogut am Wochenende konnte.
    Sie kutschierten durch die
Weber Street, vorbei am Party-Service, wo Belle das Thanksgiving-Essen bestellt
hatte, dem Underground, wo alle Underwood-Schüler nach dem Unterricht landeten.
In Ellies Gesellschaft sah Delia Bay Borough in anderem Licht. Es wirkte nicht
mehr so glücklich wie sonst. Die Frauen mit ihren Einkaufstüten auf dem
Nachhauseweg wirkten ungewollt albern, wie jene plastiklächelnden Hausfrauen
aus den Küchenreklamen der fünfziger Jahre. Delia schob den Gedanken beiseite
und wandte sich an Ellie. »Na ja!« sagte sie, »vielleicht treffe ich Sie ja bei
Ihrem Vater.«
    »Wenn ich da nochmal hingehe«,
meinte Ellie finster.
    »Aber Sie müssen! Warum nicht?
Es ist ein ausgesprochenes Vergnügen, sich mit ihm zu unterhalten.«
    »Für Sie vielleicht«, versetzte
Ellie. »Sie sind nicht seine Tochter.«
    Sie bog in die Pendle Street,
trat auf die Bremse, weil ihr ein Collie in die Quere kam, und parkte vor
Millers Einfahrt. (Der hastige Blick aufs Wohnzimmerfenster hatte vielleicht
gar nichts zu bedeuten.) »Bye, bye, No-No«, sagte sie und warf ihrem Sohn eine
Kußhand zu. »Delia, noch einmal, Entschuldigung für alles.«
    »Ist schon gut«, sagte Delia.
    Während sie hinter Noah über
den Gehweg hinkte, fiel ihr ein, woher ihr Ellies Satz so bekannt vorkam. »Für
dich vielleicht«, hatten Delias Schwestern immer zu ihr gesagt. »Klar, du
verstehst dich gut mit Vater«, sagten sie, »du bist ja auch ein Nachkömmling,
deswegen. Du kannst ihm nicht soviel vorwerfen.«
    Aber, was sie ihm vorwarfen,
konnten sie nicht sagen. Nicht einmal, wenn sie danach fragte, und sie wettete,
bei Ellie war es genauso.
     
    * * *
     
    Als Delia die leichteren Schuhe
anziehen wollte, die sie im Haus trug, bemerkte sie, daß der Riegel ihres Pumps
eine tiefe Kerbe auf ihrem rechten Spann hinterlassen hatte. Der ganze Fuß war
geschwollen, als trüge sie einen Geisterpumps. Und ihr Knöchel war nur noch
eine kleine Mulde. Sie bezweifelte allerdings, daß irgend etwas gebrochen war.
Die Zehen ließen sich noch bewegen.
    Sie füllte eine Schüssel mit
kaltem Wasser, fügte ein paar Eiswürfel hinzu und setzte sich auf den
Küchenstuhl, um ihren Knöchel zu kühlen. Und womit sonst konnte sie die
Schwellung lindern? Immer hatte sie zugehört, wie Sam seinen Patienten
Ratschläge gab; eigentlich hätte sie wissen müssen, was zu tun war. R. U. H. E.
hatte er ihnen als Gedächtnisstütze mit auf den Weg gegeben. Sie sagte es laut
vor sich hin. »Ruhe, Umschläge...« Aber wofür stand das H? Heben? Halten? Sie
versuchte es nochmal: »Ruhe, Umschläge...«
    »Ruhe, Umschläge, Hochlegen,
Eis«, ergänzte Joel und legte seine Aktentasche auf die Anrichte. »Was ist denn
mit Ihnen los? Sie sehen ja aus wie ein Waisenkind im Krieg.«
    »Oh«, sagte Delia, »wissen Sie,
manche Autotüren haben dermaßen scharfe Kanten...« Dann wurde ihr klar, daß dies
in keiner Weise ihren Knöchel erklärte. »Manche Tage sind eben wie verhext«,
endete sie vage.
    Dem ging er nicht weiter nach.
Er öffnete einen der Oberschränke und suchte tastend etwas, hoch oben.
»Irgendwo hier steckt ein Erste-Hilfe-Kasten«, sagte er. »Schließlich bin ich
bestens ausgebildet — da ist er ja.« Er förderte einen grauen Blechkasten
zutage. »Wenn Sie ihn fertig gekühlt haben, verbinde ich den Fuß.«
    »Oh, bin fertig«, sagte Delia.
Sie hätte sich vielleicht noch etwas Zeit nehmen sollen, aber ihr war zittrig
von den Eiswürfeln. Sie hob ihren Fuß aus der Schüssel und tupfte ihn mit einem
Küchentuch trocken. Joel beugte sich, um ihn zu betrachten. Er stieß einen
Pfiff aus.
    »Vielleicht muß er geröntgt
werden«, sagte er. »Sind Sie sicher, daß nichts gebrochen ist?«
    »Ziemlich. Alles funktioniert
noch«, meinte Delia.
    Er schob die Schüssel beiseite,
kniete sich und begann eine fleischfarbene Binde abzuwickeln. Delia war sich
bewußt, wie verquollen ihr Knöchel war und die Haut blauverfärbt, aber er verzog
keine Miene. Er verband ihren Fuß, kreuzweise überm Spann, dann in perfekt
symmetrischen Vs aufwärts. »Oh, wie toll! Wunderbar, meine ich«, sagte Delia.
»Sie sind ja ein Experte.«
    »Das gehört zu meinen
Schulleiterpflichten«, sagte Joel. Er wickelte ihr den letzten Rest Verband ums
Schienbein. Dann befestigte er ihn mit zwei Metallklipsen, die den Pflastern
auf ihrer Stirn glichen. »Wie ist das?« fragte er. Er griff prüfend ihren Fuß.
»Stramm genug?«
    »Oh, ja, es fühlt

Weitere Kostenlose Bücher