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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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Hatte Einkommenssteuern bezahlt (verheiratet, allein veranlagt). Hatte
sich zur Wahl registrieren lassen. War mit der Katze zum Tierarzt gegangen. Sie
war eine brave Bürgerin von Bay Borough.
    Dann kam ein Brief von Susie.
    Der Umschlag war korrekt
adressiert, Susie hatte also Eliza oder Eleanor befragt. Die Handschrift war so
rund, das Wort Borough wirkte wie eine Reihe Ballons an einer einzigen Schnur.
Beinah verstohlen löste Delia die Lasche des Kuverts, anstatt sie aufzureißen,
als könne dies die Wucht des Inhalts mildern.
     
    Hallo Mama!
    Nur eine kleine Nachricht, um
Dich auf dem laufenden zu halten! Wie geht’s? Danke für die Karte zum Abschluß.
Der Semesteranfang war voll trostlos, aber hinterher hat Tucky Pearson auf ihrer
Pferdefarm zu Hause eine klasse Party gegeben!
    Eigentlich gibt’s nichts
Besonderes, außer daß Papa gerade so-o-o-o-o schwierig ist! Ich weiß, Du
verstehst mich sicher besser, kannst Du Papa vielleicht mal anrufen und mit ihm
reden? Sag nicht, daß ich Dich gebeten habe — sag nur, Du hast einen Brief von mir
gekriegt und findest, ihr solltet mal über meine Pläne reden. Du kannst Dir
nicht vorstellen, wie gemein er ist! Oder vielleicht doch! Ehrlich Ma, manchmal
verstehe ich voll, warum Du weggegangen bist! Mach’s gut!
    Kuß, Susie.
     
    Delia fühlte sich plötzlich
erschöpft. Sie legte den Brief zusammen und steckte ihn in den Umschlag zurück.
    Nun gut.
    Von zu Hause konnte sie nicht
anrufen. Joel sollte das Gespräch nicht auf seiner Rechnung finden. Daß Sam die
Gebühr zahlte, wollte sie auch nicht; es wirkte gleich so bedürftig. Also
durchforstete sie ihre Handtasche und sämtliche Kleidertaschen nach Kleingeld,
dann ging sie an die Telefonzelle Ecke Bay und Weber Street, anderthalb Blöcke
weit. Sie ging, so schnell ihr Knöchel es zuließ, denn zwischen halb zwölf und
zwölf war die beste Chance, Sam gleich am Apparat zu haben. Er machte dann
Mittagspause. Oder in ihrer Abwesenheit hatte sich mehr geändert, als sie
dachte.
    In der Telefonzelle — einer
dieser halbhohen Kabinen, in denen sich jeder Verkehrslärm fing — legte sie
ihre Münzen der Reihe nach auf die Ablage und wählte die Nummer des
Erwachsenentelefons zu Hause. Sie hatte noch nie ein Ferngespräch aus der
Telefonzelle geführt und stellte beunruhigt fest, daß sie ihre Münzen einwerfen
mußte und erst dann zu verstehen war. Sie hörte das Telefon am anderen Ende
zweimal läuten, dann sagte Sam: »Dr. Grinstead«, und eine Geisterstimme gab
Anweisungen; Delia warf ihre Geldstücke ein. Wang! Wang! Es war
demütigend — fast so schlimm wie ein R-Gespräch, schlimmer noch, weil Sam nicht
begriff, was los war. »Hallo?« rief er immer wieder. »Ist da jemand?«
    Seine tiefe, gleichmäßige
Stimme, seine Angewohnheit, sie am Ende, selbst bei Fragen, abfallen zu lassen.
    Delia sagte: »Sam?«
    »Wo steckst du?« fragte er
sofort.
    Er hielt es anscheinend für
einen Hilferuf. Er dachte, sie gäbe sich geschlagen — rief an, um zu sagen:
»Komm, hol mich.« Darauf hatte er sicher seit Monaten gewartet. Sie reckte
sich. »Ich rufe wegen Susie an«, erklärte sie.
    Totenstille. Dann: »Oh, Susie.«
    »Hast du eine Ahnung, was sie
für Probleme hat?«
    »Auch wenn ich ein Schwachkopf
bin, so viel weiß ich nun doch«, sagte er eisig. »Aber du willst mir
sicher deine Meinung mitteilen.«
    »Was?« Delia preßte ihre Finger
gegen die Stirn. »Nein, warte, ich meine, ich frage dich wirklich! Sie hat mir
geschrieben, es gäbe Probleme, aber was, hat sie nicht gesagt.«
    »Oh«, sagte Sam. Wieder
Schweigen. »Nun«, sagte er, »dann geht es vermutlich um ihre Hochzeit.«
    »Susie will heiraten?«
    »Das will sie. Ich bin
dagegen.«
    »Aber — « sagte Delia. Aber mir
hat sie keinen Ton davon erzählt! wollte sie protestieren. Hat mich nicht
einmal um meine Meinung gebeten! Das, wußte sie, war sinnlos; statt dessen
sagte sie: »Driscoll ist ein sehr netter Junge. Es geht doch um Driscoll,
oder?«
    »Wen sonst«, sagte Sam. »Aber
das steht nicht zur Debatte. Sie kann heiraten, wen sie Lust hat, aber ich habe
gesagt, vorher muß sie erst einmal ein Jahr allein leben.«
    »Ein Jahr! Wieso?«
    »Ich bin strikt dagegen, daß
sie von der Schulbank weg heiratet. Vom Haus ihres Vaters gleich ins Haus ihres
Mannes.«
    Haus ihres Vaters? Er war
strikt dagegen? Und die Mutter? Oh, schon gut... aber Haus ihres Vaters?
    Und die größte Beleidigung
überhaupt: eigentlich meinte er, er wollte nicht, daß Susie wie

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