Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
Vom Netzwerk:
sich...«
    Es fühlte sich wunderbar an.
Nicht nur der Verband — natürlich war die Stütze eine große Erleichterung — ,
sondern die Hand um ihren Fuß, die große warme Handfläche, die ihre Ferse
selbst durch den Verband wärmte. Am liebsten hätte sie ihren Fuß noch dichter
an ihn gedrückt. Von diesem festen Griff konnte sie gar nicht genug kriegen.
Ihr war bisher nie klargewesen, daß auch der Spann zu den erogenen Zonen
zählte.
    Als könne er Gedanken lesen,
blieb er weiter knien und sah ihr ins Gesicht.
    »Delia?« sagte Noah. »Kann ich
—?«
    Beide schraken zusammen. Joel
ließ ihren Fuß fallen und stand auf. Er sagte: »Noah! Ich dachte, du bist bei
deiner Mutter.«
    Noah stand in der Tür und zog
die Stirn kraus.
    »Wir haben gerade, eh, Delias
Knöchel verbunden«, erklärte Joel. »Sie hat ihn wohl verstaucht.«
    Delia sagte: »Ruhe, Umschläge,
Hochlegen, Eis! Ein Akri-Akro.« Sie lachte, außer Atem. »Oh, Gott, dabei
verspreche ich mich immer.«
    Noah sah sie nur an.
Schließlich sagte er: »Kann ich Jack zum Abendessen einladen?«
    »Oh, natürlich!« sagte sie.
»Ja! Gute Idee!«
    Er sah sie noch einen
Augenblick an, schaute zu seinem Vater, drehte sich dann um und ging hinaus.
     
    * * *
     
    Joel erlaubte an jenem Abend
nicht, daß sie in der Küche stand. Er packte sie aufs Sofa im Familienzimmer,
die Füße hochgelegt und die Katze auf dem Schoß, dann ging er eine Pizza holen.
Inzwischen räkelten sich Noah und Jack am Boden vor dem Fernseher. Es gab
irgendeinen Krimi. In besonders spannenden Szenen klimperte hypnotisch ein
Klavier. Delia ließ George los, lehnte sich zurück und schloß die Augen.
    Im Geiste sah sie die
Asphaltfahrbahn des Highway 50 auf sich zurasen. Sie sah den Plymouth, der wie
ein Pfeil in den strömenden Verkehr schoß und wunderbarerweise dem Zusammenstoß
entging; blip, wie in einem Videospiel. Sie schreckte auf, die Augen weit
aufgerissen, entsetzt, wie knapp sie davongekommen waren.
     
     
     
    17 Die Wunde auf Delias Stirn
heilte schnell, nur ein schwaches weißes Zeichen blieb, wie ein Angelhaken. Die
Verstauchung dauerte länger. Wochenlang verlagerte sie ihr Gewicht auf das
rechte Bein. »Eigentlich gehe ich sonst anders«, hätte sie am liebsten den
übrigen Fußgängern erklärt, denn irgendwie fühlte sie sich benachteiligt —
zweitrangig, minderbemittelt. Sie überlegte, wie diejenigen das aushielten, die
immer gehbehindert waren, wie manche der Senior-City-Bewohner.
    Senior City war der einzige
Ort, wo ihr Hinken keine Aufmerksamkeit erregte. Ohne Eile bewegte sie sich auf
den wartenden Fahrstuhl zu, immer gewiß, die anderen Mitfahrer hielten ihn für
sie an. Drinnen schließlich unterhielt man sich angeregt, kein Anzeichen von
Ungeduld, eine Mitfahrerin lehnte geistesabwesend gegen den OFFEN-Knopf, bis
Delia sie darauf aufmerksam machte. Die Gebrechen der anderen fielen ihr jetzt
weniger auf, auch die Falten nicht und die weißen Haare. In den letzten Monaten
hatte Delia angefangen, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.
    Und wie wirkte Binky dagegen!
Jetzt war sie sichtbar schwanger. Im Mai trug sie Umstandskleider. Anfang Juni
trug sie ihren Bauch, wenn sie sich aus dem Sessel erhob, wie eine Schürze
Obst, mit beiden Händen. »Diesmal scheint es viel mehr zu sein«, meinte sie zu
Delia. »Bei den Jungen sah man bis zum Schluß kaum etwas. Damals habe ich bei
den Jeans den Reißverschluß nicht zugemacht und darüber die Oberhemden meines
Mannes getragen. Jetzt passe ich kaum noch ins Auto und habe noch drei Monate
vor mir.«
    Zweifellos war dieses Kind
nicht geplant. Binky erzählte, sie sei schon in der zwölften Woche gewesen,
bevor es ihr dämmerte — hätte immer noch jedem, der es hören wollte, erklärt,
sie feiere eine Junihochzeit. »Dann war es mir nicht mehr geheuer, und ich ging
zum Arzt. Als der mir erklärte, ich sei schwanger, habe ich große Augen gemacht.
Er meinte: Achtunddreißig ist heutzutage kein Problem. Viele Frauen bekommen
mit achtunddreißig ein Kind. Ich sagte nur: ›Und was ist mit siebenundsechzig?‹
›Siebenundsechzig?‹ Ich: ›So alt ist der Vater.‹ Er, erst: ›Oh.‹ Dann: ›Aha.‹
Dann: ›Hmm.‹«
    »Ich sehe das so«, erklärte Nat
Delia. »Wo besser als in einem Altersheim kann ein Kind zur Welt kommen? Jede
Menge Ärzte und Schwestern stehen nur rum und drehen Däumchen im dritten
Stock.«
    Delia war entsetzt. Sie fragte:
»Gehst du wirklich zum Entbinden in den dritten

Weitere Kostenlose Bücher