Kleine Abschiede
im Bay-Arms-Hotel kamen ihr dabei zugute, und sie saß
gutgelaunt allein da, aß drei komplette Gänge und beobachtete das Treiben an
den Nebentischen. Fand sie noch eine leere Bank, setzte sie sich ein Weilchen
auf die Promenade. Das Getöse der Videospiele und Rockmusik trommelte von
hinten auf sie ein; vor ihr lag der leere schwarze Ozean, weiß gesäumt, unter
einem Sichelstück Mond.
An den meisten Abenden war sie
um neun wieder in ihrem Zimmer. Um zehn im Bett. Sie schaltete die Klimaanlage
aus und schlief nur unter einem Laken, leicht schwitzend in der warmen Luft,
die durchs Fenster wehte.
Ein Tag war wolkig,
Regenschauer spritzten, und so blieb sie drinnen vor dem Fernseher. Talkshows, meistens:
eine ganz neue Welt. Die Leute waren im Fernsehen wirklich hemmungslos, stellte
sie fest. Familienmitglieder, die seit Jahren nichts mehr miteinander zu tun
gehabt hatten, redeten miteinander ausführlich vor der Kamera. Frauen weinten
vor Publikum. Wenn Delia den Apparat abschaltete, schmerzte ihr Gesicht, als
sei ihr zuviel Anteilnahme abverlangt worden. Sie machte einen Spaziergang und
kaufte sich eine neue Lektüre, keinen Liebesroman, sondern etwas Ernsteres,
einen Tatsachenbericht über Armut in Maine. Auf ihrem Gang trug sie ihre
Miss-Grinstead-Strickjacke, sie klebte ihr sachte am Arm, und sie fühlte sich
verwöhnt und gehegt wie ein Kind. Noah schickte sie zwei Postkarten ins
Zeltlager. Schönes Wetter, schöne Wellen, schrieb sie. Und so weiter. Sie
kaufte auch eine Karte für Joel, aber sie konnte sich nicht entscheiden, was
sie schreiben sollte. Zuletzt schrieb sie statt dessen Belle. Die Idee war
wirklich gut. Danke, daß Du alles für mich arrangiert hast. Belles Freundin
Mineola, schwarz gefärbt, mit Radlerhosen und Stilettoabsätzen, grüßte immer
freundlich und ließ sie sonst in Ruhe, was Delia zu schätzen wußte.
Ein plötzlicher gelegentlicher
Sinneseindruck — ein Hauch Kokosöl, der grobe Sand in den Rändern ihres
Badeanzugs, und sie dachte an die Ferien an der See mit der Familie, damals.
Beim nachmittäglichen Zurückbringen ihres Sonnenschirms rief ein Kind: »Mama,
Jenny soll auch etwas tragen!«, und sie fühlte sich zurückversetzt in den
allabendlichen Aufbruch, wenn die Kinder bettelten, noch ein bißchen bleiben zu
dürfen, und die Erwachsenen die Schlauchboote suchten, wo ist der grüne Eimer,
nimmt jemand die Thermosflasche? Der Zank fiel ihr ein, und wie der achtlos
hochgewirbelte Sand auf der verbrannten Haut weh tat, und die schwere, schlaffe
Müdigkeit. Jede alles andere als perfekte Einzelheit fiel ihr wieder ein, und
dennoch hätte sie alles in der Welt gegeben, diese Augenblicke wiederzufinden.
Wessen Schuhe sind das? Jemand
hat seine Schuhe vergessen! Wehe, ihr jammert morgen, wenn die Schuhe weg sind!
Sie kaufte eine Postkarte mit
einem Delphin und schrieb Lieber Sam, liebe Kinder, mache ein bißchen
Ferien, denke an Euch alle. Dann fiel ihr ein, sie dächten womöglich, daß
sie damit das ganze vergangene Jahr meinte, nicht bloß die zwei Wochen in Ocean
City; und sie wußte nicht, wie sie das klarstellen konnte. Sie zerriß die Karte
und warf sie weg.
An ihrem letzten Abend war sie
mit Ellie im ›Seemannstraum‹ verabredet. Eigentlich bedauerte sie, daß sie
zugesagt hatte. Gespräche fand sie plötzlich anstrengend. Aber auch Absagen
wäre anstrengend, also ging sie zur verabredeten Zeit zum Restaurant. Ellie
stand schon unter der Markise. Sie trug ein schulterfreies Strandkleid aus
weißem, mit Silberfäden durchzogenem Stoff, ein Kleid, das an Kreuzfahrten
denken ließ; passend dazu eine kleine weiße Tasche, wie eine Muschel. Die
Männer sahen ihr im Vorbeigehen nach. »Ach, Delia! Welche Überraschung!« rief
sie. »So gesund und rosig!« Delia wußte gar nicht, wie gut es tat, erwartet und
freudig begrüßt zu werden.
Der ›Seemannstraum‹ glich mit
seinen prallen Lederpolstern einem Club englischer Gentlemen, aber nicht ganz.
Der Teppich, zum Beispiel, roch genauso pilzig wie der in Delias Motel. Und
sämtliche Ober waren tiefgebräunt.
»Erzählen Sie«, sagte Ellie,
sobald sie saßen. »Haben Sie es hier schön?«
»Wunderbar«, meinte Delia.
»Machen Sie zum ersten Mal ganz
allein Ferien?«
»Oh, ja«, sagte Delia. »Oder
besser gesagt...«
Sie war unsicher, ob die Reise
damals nach Bay Borough schon als Ferien gelten konnte. (Und wenn ja, wann
waren die Ferien zu Ende gewesen, und wann hatte der Alltag begonnen?) Sie sah
Ellie ins Gesicht;
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