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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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der
Bräutigam es selbst arrangieren.«
    Delia lachte. Sie sagte: »Also,
ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Darf ich dir denn gratulieren, oder
lieber nicht?«
    »Na, doch, klar«, sagte Belle.
»Gratuliere mir meinetwegen.« Und ihre Linke hob sich einen Augenblick vom
Lenkrad nach hinten, damit sie ihren Diamant bewundern konnte.
     
    * * *
     
    Die ›Seejungfrau‹ entpuppte
sich als verwaschen türkises Motel auf der falschen Highwayseite in einem bunt
zusammengewürfelten Stadtteil zwischen einem T-Shirt-Laden und einem
Spirituosengeschäft. Aber Belle hatte ihr einen guten Rabatt ausgehandelt, und
Delia wollte sowieso nicht viel Zeit in ihrem Zimmer verbringen.
    Jeden Morgen überquerte sie den
Highway, ihre Tasche und eine Decke aus dem Motel unterm Arm, in der Hand einen
Styroporbecher mit Kaffee. Am Strand mietete sie einen Sonnenschirm und machte
es sich in der Menge bequem, die im Verlauf des Tages dichter wurde —
quengelnde Kinder, unfaßbar hübsche Teenager, Eltern aller Gewichts- und Altersklassen
und zähe, weißhaarige Großeltern. Zuerst setzte sie sich hin und trank ihren
Kaffee, und wenn sie fertig war, zog sie ihr Buch aus der Tasche und las.
    Hier in Ocean City las sie
wieder Liebesromane, durchschnittlich einen pro Tag. Sie kamen ihr nach den
Büchereibüchern übertrieben und seicht vor, und sie las fast gedankenlos,
achtete mehr auf die Schreie der Möwen und Kinder, die sonnenverbrannten Füße,
die an ihr vorbei durch den Sand knirschten. Eines Tages begann sie ein Buch
über eine Braut, die vom Bruder ihres Verlobten entführt wird, und irgendwann
mittendrin fiel ihr auf, daß es das gleiche Buch war, das sie in den Ferien im
vergangenen Jahr gelesen hatte. Sie sah sich den Titel an, ja: Die Gefangene
von Schloß Clarion. Nachdenklich sah sie aufs Meer. Eine Mutter hielt ein
Windelkind so, daß die Brandung ihm nichts anhaben konnte, und alle Radios
ringsum spielten »Under the Boardwalk«; Delia malte sich aus, daß sie sich
selbst über den Weg lief, südwärts, entlang der Wellenschaumkante.
    Man stelle sich vor, die
Gefangene von Schloß Clarion hätte den Bruder geheiratet. Wie peinlich bei
Familienfeiern! Der Verlobte weigerte sich entweder zu kommen, oder er saß
schmollend da und war die Ungemütlichkeit in Person.
    Solche Überlegungen fanden in
diesen Romanen nie statt.
    Gegen Mittag stand Delia auf
und ging zum Mittagessen auf die Strandpromenade. Sie aß in irgendeinem
x-beliebigen Café ein Sandwich oder eine Pizza — blinzelte gegen die violetten
Ringe, die ihr in der plötzlichen Dunkelheit vor Augen schwammen. Dann kehrte
sie zu ihrem Schirm zurück und hielt eine Weile ein Mittagsschläfchen. Später
machte sie einen Strandspaziergang, nur kurz, weil ihr Knöchel immer noch
wacklig war, sobald sie ihn länger belastete. Und schließlich ging sie täglich
ein einziges Mal schwimmen.
    Sie brauchte ewig, bis sie ganz
im Wasser war, als zöge sie Ruck für Ruck ein schmerzhaftes Pflaster ab. Die
Arme eigentümlich in die Luft gereckt, tief Luft geholt und den Bauch
eingezogen, krebste sie zimperlich voran, bot den Wellen die geringste
Angriffsfläche. Schließlich war sie im Tiefen, und ihre Frisur wurde, wenn sie
es geschickt anstellte, dabei überhaupt nicht naß. Und endlich trieb sie weit
hinten, zufrieden wie nach einer Heldentat, schaukelte und schaute gnädig amüsiert
strandwärts den Wellen nach, die sich im Flachwasser an den kreischenden
Völkerscharen brachen. Und immer wartete sie auf eine besonders zahme Welle und
ließ sich landeinwärts tragen — nur manchmal verrechnete sie sich, es riß ihr
doch die Beine weg, und sie schlingerte im Wasser wie eine Ladung Wäsche in der
Waschmaschine.
    Dann schwankte sie
tropfensprühend an den Strand und wrang das Röckchen ihres Badeanzugs aus.
Inzwischen war ihre Sonnenölschicht abgespült, und im Verlauf der Ferien wurde
ihr Gesicht ständig rosiger und sommersprossiger. Zurück in ihrem Zimmer, galt
ihr erster Blick dem Spiegel, und jeden Tag war die Person, die ihr
entgegensah, ein bißchen brauner. Rollte sie ihren Badeanzug herunter, trug sie
einen zweiten fischweißen Anzug. In der Dusche wurden ihre Füße obenauf
purpurrot.
    In Sams Strandjacke hockte sie
auf dem Bett und rieb sich das Haar trocken. Feilte ihre Nägel. Sah die
Fernsehnachrichten. Später, wenn ihr von der muffigen Luft der Klimaanlage
fröstelte, zog sie sich an und ging abendessen — jedesmal in ein anderes
Restaurant. Die Sonntage

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