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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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zu Hause statt. Mit dem Datum war es schon schwieriger. Warum
September? Warum ein Montagmorgen? Und hatte Susie eine Stelle gefunden oder
nicht?
    Am liebsten hätte Delia
angerufen, aber sie war sich bewußt, daß sie dazu kein Recht hatte. Sie würde
brieflich antworten, wie jeder andere Gast.
    Natürlich würde sie dabeisein.
    Sie blickte hoch und sah ihr
Gesicht im Kommodenspiegel — weit offene, betroffene Augen, scharf konturierte
Sommersprossen.
    Als ihr erstes Kind ein Mädchen
war, war sie überglücklich gewesen. Insgeheim hatte sie sich ein Mädchen
gewünscht. Sie hatte sich ausgemalt, wie sie ihr kleine gesmokte Kleider
anziehen würde; doch Susie, stellte sich heraus, bestand auf Jeans, sobald sie
sprechen konnte. Sie hatte sich ausgemalt, was sie zwei Frauen zusammen
unternähmen (Nähen, Kuchenbacken, Kosmetik), doch Susie ging lieber zum Sport.
Und statt einer großen weißen Hochzeit — Susie in einer Wolke altmodischer
Spitzen und beide Eltern als Brautführer: strahlend gemeinsam (moderne
Gleichberechtigung!) — stand Delia hier in einem Haus in Maryland und überlegte,
wie wohl die Hochzeit vonstatten ginge, zu der ihre Tochter sie einlud.
     
    * * *
     
    Noah war im Zeltlager
mindestens fünf Zentimeter gewachsen, und die geflochtenen Makramébändchen um
beide Handgelenke betonten, wie braun und breit seine Hände waren. Außerdem
hatte er eine neue Angewohnheit: »Speicherste das?« fragte er andauernd, und
Joel standen die Haare zu Berge. Sie saßen bei Rick-Rack’s, Joel und Noah an
einer Tischseite und Delia auf der anderen, und auch wenn Noah es nicht
auffiel, merkte sie, wie Joel jedesmal zusammenzuckte.
    »Ich schwöre dir«, versicherte
Joel ihm schließlich. »Ich habe durchaus verstanden, was du meinst; aber ich
bin nicht gewillt, dir diese Tatsache im Computerjargon mitzuteilen.«
    »Hö? Also jedenfalls«, sagte
Noah, »mußten wir im Lager jeden Morgen fünfzig Liegestütze machen. Fünfzig,
speicherste das? Ich glaube, die wollten uns umbringen und nur unser Geld
einstreichen. Also sind ich und Ronald ins Krankenzimmer — «
    »Ronald und ich«, unterbrach
Joel.
    »Genau, und haben versucht, ein
Attest zu kriegen. Aber die schwachköpfige Schwester hat uns keins geschrieben.
Sie meinte immer — «
    »Sie sagte.«
    »Sie sagte — «
    Ihr Essen kam, Hamburger für
Noah und Joel, ein Barbecue-Sandwich für Delia. »Danke, Teensy«, sagte Noah.
    »Gern geschehen«, sagte Teensy
gutgelaunt.
    »Für dich: Mrs. Rackley«,
verbesserte sein Vater.
    Noah warf Delia einen Blick zu.
Delia, die auch gerade Teensy beim Vornamen anreden wollte, schloß den Mund und
lächelte ihn nur an.
    »Vater läßt fragen, wo Sie in
letzter Zeit gesteckt haben«, fragte Teensy Delia.
    »Ich war in Ocean
City.«
    »Ja, das habe ich ihm auch
gesagt, aber er behält es einfach nicht. Er meinte: Davon hat sie kein Wort
gesagt! Ist einfach auf und davon! meinte er. Sein Gedächtnis ist ein Sieb.«
    »Oh, das tut mir leid«, sagte
Delia.
    »Er meint, es passiert alles so
schnell, er kann nichts mehr begreifen. Und dann meint Rick, nur um nett zu
sein: ›Oh, ich weiß genau, was du —‹. Und Vater meint dann: ›Halt du mit deiner
schwarzen Seele dich da raus!‹ und ich meine nur: ›Vater!‹ meine ich — «
    Teensy unterbrach sich, warf
Joel einen Blick zu. »Na ja«, sagte sie. »Ich glaube, ich mache mich wieder an
die Arbeit.«
    Sie strich ihre Schürze glatt
und lief davon.
    »Unglaublich«, sagte Joel.
    Er schien ahnungslos, daß sein
Anstarren sie verscheucht hatte.
    »Vielleicht kann Mr. Bragg nach
Senior City ziehen«, sagte Noah.
    »Ich glaube nicht, daß er sich
das leisten kann«, antwortete Delia.
    »Vielleicht haben sie
Stipendien. Oder Freiplätze, speicherste das?«
    Joel rollte die Augen.
    »Also jedenfalls«, sagte Noah
und nahm seinen Hamburger. »Als nächstes haben ich und Ronald uns gedacht, daß
wir krank spielen. Bloß nicht beide zusammen, sonst kriegen sie einen
Verdacht.«
    »Ihr habt das ganz falsch
angefangen«, fand Joel. »Ausflüchte bringen nichts.«
    »Was?«
    »Ausflüchte.«
    »Was ist das denn?«
    Joel starrte Delia an. Er hatte
dermaßen die Stirn gerunzelt, sie sah wie Kordsamt aus.
    »Er meint Ausreden«, erklärte
Delia. »Heimlichtuerei.«
    »Oh.«
    »Er meint, du hättest dich in aller
Öffentlichkeit dagegen wehren sollen. Nehme ich wenigstens an.« Sie wartete auf
Joels Erklärung, was genau er hatte sagen wollen, aber der war immer noch
sprachlos. »Meinen

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