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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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fährst.«
    »Verzeihung«, sagte sie und
fuhr langsamer. »Sieh dir das Geschenk für das Baby an«, schlug sie ihm vor.
»Es liegt auf dem Rücksitz.«
    Er warf zwar einen flüchtigen
Blick nach hinten, ließ das Päckchen aber liegen. »Warum verrätst du nicht
einfach, was drin ist«, sagte er.
    »Ein winziges Paar Sportschuhe,
kaum größer als ein Fingerhut.«
    »Huch.«
    Früher hätte er das Geschenk
auf jeden Fall sehen wollen.
    Der Tag war kühl und wolkig,
Regen war vorhergesagt, doch während der Fahrt verirrten sich nur ein paar
Tropfen auf ihre Windschutzscheibe. Noah hörte Autoradio, Sänger schrien
Schimpfworte, während Delia in Gedanken ruhigere Lieder spielte — so hatte sie
es schon bei ihren eigenen Kindern gemacht. Sie war bei »Let it be« angelangt,
als sie nach Senior City einbogen.
    »Es kann nicht wahr sein«, rief
Noah.
    Neben der Doppeltür am Eingang
stand ein drei Meter hoher, aus Holz gesägter Storch im blauen Frack mit einem
himmelblauen Bündel im Schnabel. Himmelblaue Luftballons schwebten über dem
Vordach. Das Mitteilungsbrett in der Halle (an dem sonst die Danksagungen von
Genesenen hingen oder Teilnehmerlisten für Busfahrten zu den großen
Versandhäusern in York) war gespickt voll mit Babyfotos, in Farbe, und das Baby
nur Minuten alt. Drei Frauen, alle mit flotten Halstüchern, wie sie hier fast
obligatorisch waren, standen vor den Fotos und stritten über die Bedeutung der
Handgröße bei Säuglingen. Eine Frau behauptete, große Kinderhände hieße ein
großer Erwachsener, aber die andere hielt dagegen, das gelte nur für Hunde.
    Im Fahrstuhl trafen sie Pooky
auf einer ihrer nie endenwollenden Fahrten. Doch heute wußte sie haarscharf,
sie befand sich im Erdgeschoß; sie drückte für sie den zweiten Stock und riet:
»Beeilt euch, dann kriegt ihr noch das Bäuerchen mit.«
    »Oh, haben Sie ihn schon
gesehen«, fragte Delia.
    »Zweimal. Ich war gestern
gerade in der Halle, als sie mit ihm aus dem Krankenhaus kamen. Hoffentlich
sind das keine Schuhe.«
    »Doch, eigentlich schon«, sagte
Delia.
    »Er besitzt bereits schwedische
Clogs, winzige Badelatschen und klitzekleine Motorradstiefel. Ganz abgesehen
von all den Schuhen, die wir gestrickt haben.«
    Der Fahrstuhl hielt
schwungvoll, und die Tür glitt auf. »Ich würde ja mitkommen«, rief Pooky ihnen
nach, »aber ich muß in meine Wohnung und prüfen, ob alles kindersicher ist.«
    Auf dem Weg zu Nats Apartment
hingen Luftballons an den Geländern, und an der Tür war ein Schild: das baby... ein Messingpfeil deutete
auf wird gefüttert, schläft, ist wach und ist ausgegangen waren die anderen
Möglichkeiten. Delia überlegte, ob wird
gefüttert hieß, daß sie später wiederkommen sollten, doch Noah hatte
schon geläutet.
    »Da seid ihr ja!« sagte Nat,
als er die Tür öffnete. »Hereinspaziert, hereinspaziert!« Heute benutzte er
seinen Stock, doch er ging schnell und federnd, als er sie ins Schlafzimmer
führte. »James bekommt gerade eine kleine Zwischenmahlzeit«, rief er ihnen im
Gehen zu.
    »Sollen wir hier draußen
warten?« fragte Delia.
    »Nein, nein, wir sind alle ganz
anständig. Bink, Herzchen, Noah und Delia sind da.«
    Binky saß am Kopfende des
Bettes, im Kleid, aber ohne Schuhe. Die Babydecke, die sie über ihren Busen
drapiert hatte, verdeckte das Gesicht des Kindes, nur ein feuerrotes kleines
Ohr und ein flaumiger Kopf waren zu sehen. »Oh, sieh ihn dir an!« flüsterte
Delia. Es war immer gleich, ihr Herz fuhr Achterbahn, wenn sie ein Neugeborenes
sah.
    Doch Noah interessierte sich
für alles, nur nicht für das Kind. Er vergrub seine Hände in den Gesäßtaschen
seiner Hose und fixierte einen fernen Punkt im Schlafzimmer, bis Binky Delia
zuzwinkerte und fragte: »Willst du ihn halten, Noah?«
    »Ich?«
    Sie nahm das Baby von der
Brust, schob gleichzeitig schicklich die Decke zurecht. Das Baby hatte die
Augen geschlossen und machte nostalgische kleine Schmatzgeräusche, sein kleiner
Mund spitz wie eine Rosenknospe. Er hatte wirklich große Hände und hielt seine
langen durchscheinenden Finger dicht unterm Kinn verschränkt. »Hier«, sagte
Binky und hielt ihn Noah hin. »Stütz nur seinen Kopf ein bißchen, so.«
    Noah nahm ihn ungeschickt, ein
gestauchtes Bündel.
    »Bis jetzt ist alles ganz
einfach mit ihm«, sagte Binky, während sie ihr Kleid zuknöpfte.
    »Die meiste Zeit schläft er,
was ans Wunderbare grenzt, wenn man bedenkt, wie viele Leute hier angerufen
haben. Deine Mutter hat angerufen, Noah;

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