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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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fiel ihr ein, daß er nie im Leben das Wort ›Beziehungskiste‹ in den
Mund genommen hatte — das hatte sie bei Ellie gehört. Sie redete schleunigst
weiter. »Aber wenn Sie genau überlegen«, sagte sie, »war die Hälfte Ihres
Vokabulars vor gar nicht langer Zeit auch neu. ›Zwanzigdollarschein‹, zum
Beispiel! Sowas entsteht nicht grundlos. ›Fernbedienung.‹ ›Ganztagsschule.‹
›Zeitschaltung.‹«
    »Was ist eine Zeitschaltung?«
    »Wenn man ein Fernsehprogramm
aufzeichnet, um es sich später anzusehen. Mr. Pomfret hat es oft gesagt, und
ich dachte: Oh kein schlechtes Wort. Wünschen Sie sich nicht manchmal
geradezu ein neues Wort? Ein Wort für...«
    »Sommersprossen«, sagte Joel.
    »Sommersprossen?«
    »Sommersprossen, die kleiner
als die üblichen sind«, sagte er. »Und blasser. Wie Goldstaub.«
    »Und für, hm, Tomaten«,
versetzte Delia, zu hastig. »Ja, Tomaten. Es gibt richtige Tomaten, und dann
gibt es die anderen, aus dem Supermarkt, die so rot sind wie die Plastikgaumen
bei falschen Zähnen; die verdienen eigentlich den Namen ›Tomaten‹ nicht.«
    »Und dann«, sagte Joel zu ihr,
»ein Wort für die völlig neue Qualität eines Menschen, wenn man ihn plötzlich
wirklich wahrnimmt.«
    Dazu fiel ihr nichts ein.
    »Plötzlich tritt das Gegenüber
überdeutlich zutage«, sagte Joel. »Man hat das Gefühl, durch, die Haut hindurch
jede Ader und jeden Pulsschlag zu erkennen. Man denkt, plötzlich ist sie
ganz... aber was sagt man dazu? Spürbar, vielleicht, aber mehr visuell spürbar,
eigentlich.«
    Seine Augen schienen ein
weicheres Braun zu haben, und der lange Mund mit den Grübchen wirkte
ausgeprägter, zarter.
    »Du meine Güte!« sagte sie und
drehte sich schwungvoll zur Tür. »Ist das Noah?«
    Doch Noah war bei Ellie und kam
erst zur Schlafenszeit zurück. Und außerdem wurde er vorn, vor der Haustür abgesetzt,
nicht hinten.
     
    * * *
     
    Manchmal, wenn Delia sich
sagte: Nur noch x Tage bis zu Susies Hochzeit, fühlte sie Angst in sich
aufsteigen. Es wird bestimmt schrecklich peinlich. Wie werden ich dastehen?
Solche Situationen sind wirklich nicht meine Stärke. Andererseits dachte
sie: Pah, was ist an einer Hochzeit so kompliziert? Wir haben so viele Leute
als Puffer um uns herum. Ich komme, und ich gehe wieder. Eigentlich nichts
dabei!
    Eine Zeitlang dachte sie, Susie
bäte sie womöglich, früher zu kommen, sogar mehrere Tage früher, um bei den
Vorbereitungen zu helfen. Wenigstens käme sie sich dann nicht wie zu Besuch
vor. Jeden Morgen hoffte sie auf Post, räusperte sich, wenn das Telefon
läutete, zögerte hinaus, Joel von ihrem Vorhaben zu erzählen, weil sie noch
nicht wußte, wie lange sie wegbleiben würde. Doch Susie bat sie um nichts.
    Und manchmal überlegte sie, ob
sie gar nicht hinfahren sollte. Was nützte es schon? Keiner würde sie
vermissen. Ein, zwei Tage nach der Hochzeit hieße es höchstens: »He! Wißt ihr,
wer gar nicht gekommen ist? Delia! Ist mir gerade eingefallen.«
    Und ein andermal phantasierte
sie, daß alle es kaum erwarten konnten, bis sie kam. »Delia!« riefen sie,
»Mama!« riefen sie, kamen auf die Veranda gerannt, schmetterten die Tür hinter
sich zu, umarmten sie stürmisch und wild.
    Nein, schlag dir das aus dem
Kopf. Eher würden sie fragen: »Was bildest du dir eigentlich ein? Meinst du, du
kannst hier angetanzt kommen, als sei nichts passiert?«
    Also durfte sie nicht
vergessen, ihre Einladung mitzubringen, falls jemand ihre Anwesenheit in Frage
stellte.
    Sie unterbreitete Joel die
Sache beim Sonntagfrühstück, nachdem sie bis zuletzt auf ein weiteres
Lebenszeichen von Susie gewartet hatte. Sonntag war sowieso günstig, weil Noah
dabeisaß und einen Stapel Pfannkuchen verspeiste; also konnte das Gespräch
nicht zu tiefschürfend werden. Sie sagte: »Joel, ich weiß nicht, ob ich es
schon erwähnt habe oder nicht — «, eigentlich wußte sie es ganz genau, »daß ich
mir morgen einen Tag freinehmen muß.«
    »Oh?«, sagte er. Er ließ die
Zeitung sinken.
    »Ich muß nach Baltimore.«
    »Baltimore«, sagte er.
    »Mensch, Delia!« sagte Noah.
»Ich habe unserm Ringtrainer versprochen, daß du uns morgen zum Wettkampf
fährst.«
    »Das geht leider nicht«, sagte
sie.
    »Mensch! Was machen wir denn
dann?«
    »Deinem Trainer wird schon
etwas einfallen«, meinte Joel. »Wenn du über Delias Dienste verfügst, solltest
du sie vorher fragen.« Doch dabei ließ er Delia nicht aus den Augen. »Ist es
etwas Dringendes?« fragte er.
    »Nein, nein,

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