Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
Vom Netzwerk:
nur eine
Hochzeit.«
    »Aha.«
    »Aber ich würde sehr gern daran
teilnehmen, eine Familienfeier, wissen Sie, und da dachte ich, Sie würden
nichts dagegen — «
    »Natürlich, ganz und gar
nicht«, sagte Joel. »Kann ich Sie zum Busbahnhof bringen?«
    »Oh, danke, aber ich werde mit
dem Auto mitgenommen«, sagte Delia. »Baltimore liegt auf Mr. Lambs Strecke, hat
sich herausgestellt.«
    Joel hatte wahrscheinlich keine
Ahnung, wer Mr. Lamb war, doch er nickte langsam, sah Delia immer noch
unverwandt an.
    »So!« sagte sie. »Also, ich
gehe davon aus, daß ich abends wieder da bin. Vielleicht zum Abendessen, aber
ich bin mir nicht sicher; zurück komme ich mit dem Bus; ich habe Geflügelsalat
gemacht und in den Eisschrank gestellt. Daneben steht eine Packung Krautsalat
von Rick-Rack’s, Kekse sind in der Brottrommel... aber bis dahin bin ich
bestimmt längst wieder da.«
    »Soll ich Sie vom Bus abholen?«
    »Nein, das macht Belle schon.
Ich rufe sie an, wenn ich in Salisbury bin.«
    »Sie können genausogut mich
anrufen.«
    »Ach, lieber nicht, ich habe ja
keine Ahnung, wann... vielleicht wird es doch spät oder so. Vielleicht komme
ich auch erst am nächsten Tag; wer weiß?«
    »Am nächsten Tag!« sagte er.
    »Wenn die Feier sehr lange
dauert.«
    »Aber Sie kommen doch zurück?«
fragte er.
    »Ja, natürlich.«
    Jetzt sah Noah sie auch an. Er
schaute von seinen Pfannkuchen hoch und machte den Mund auf, sagte aber nichts.
     
    * * *
     
    Gegen Mittag machte sie einen
Spaziergang, hatte vor, am Ende, wenn ihr Knöchel schlapp machte, im
Bay-Arms-Hotel zu essen. Es hatte morgens geregnet, doch jetzt schien die
Sonne, und die Luft kam ihr dick und warm vor, so daß sie eigentlich keinen
Pullover brauchte. Sie zog ihn aus und schwenkte ihn leicht in der Hand. Wohin
sie schaute, bekannte Gesichter. Mrs. Lincoln stand auf den Stufen der
Methodisten-Episkopalkirche und winkte ihr zu, T. J. Renfro brauste auf seiner
Harley Davidson vorbei und rief lauthals: »Was sagste dazu!« Auf der Carroll
Street liefen ihr Vanessa und Greggie über den Weg, stolzierten beide in gelben
Regenmänteln daher. »Delia, ich wollte dich gerade anrufen«, rief Vanessa.
»Hast du Lust, morgen mit nach Salisbury zu fahren?«
    »Oh, schade, ich kann nicht«,
sagte Delia. »Ich muß nach Baltimore.«
    »Was ist in Baltimore?«
    »Na ja«, sagte Delia, »meine
Tochter heiratet.«
    Belle hatte sie es auch
erzählt, aber sonst nichts dazu gesagt, doch jetzt mußte sie plötzlich ganz
dringend ihr Herz ausschütten. »Sie heiratet einen Jungen, mit dem sie schon
als Kind gespielt hat. Und ich bin ganz durcheinander, wie ich mich auf der Hochzeit
verhalten soll, aber ich möchte wirklich unbedingt dabeisein; ihr Vater findet,
sie überstürzt alles, weil sie erst zweiundzwanzig ist, und ich finde — «
    »Zweiundzwanzig! Mit wieviel
hast du sie denn bekommen: zwölf?«
    »Neunzehn«, sagte Delia. »Ich
habe praktisch von der Schulbank weg geheiratet.«
    Vanessa nickte, schien nicht
überrascht. Die meisten Mädchen in Bay Borough heirateten von der Schulbank
weg. Und bekamen mit neunzehn ein Kind. Und irgendwann im Verlauf der Zeit
kamen ihnen die Ehemänner abhanden. Vanessa wollte nur wissen: »Was für ein
Hochzeitsgeschenk hast du gekauft?«
    »Ich dachte, ich sehe erstmal,
was sie noch nötig haben.«
    »Das Klügste, was du tun
kannst«, meinte Vanessa. »Greggie! Laß den Käfer krabbeln, wohin er will. Das habe
ich bei meiner Freundin auch gemacht«, bestätigte sie Delia. »Erst wollte ich
ihr einen Handmixer kaufen, aber dann dachte ich, abwarten, und hinterher war
ich wirklich froh, weil es in ihrer gesamten Küche keine einzige Vorratsdose
gab.«
    Vanessas Gesicht über dem
gelben Regenmantel glühte leicht verschwitzt, und ihre Augen schienen sehr rein
und klar, die Augäpfel fast bläulich-weiß. Delia wollte sie plötzlich umarmen.
Sie sagte: »Oh, ich wäre wirklich gern mit dir nach Salisbury gefahren!«
    »Ein andermal«, sagte Vanessa.
»Da ist der Großhandel, wo wir unsere Gerste für Großmutters Ingrimm-Wässerchen
kaufen.«
    »Ingrimm-Wässerchen?« fragte
Delia.
    »Für Babys. Lindert Krämpfe,
Nachmittagslaunen und Nachtgespinste.«
    Delia wünschte, es gäbe das
Ingrimm-Wässerchen auch für Erwachsene.
     
    * * *
     
    Sie träumte, sie sei in Bethany
Beach, ginge den Strand entlang. Vor sich sah sie den Highway, Verdichten und
Dunkelwerden des Sandstrands, bis er sich in Asphalt verwandelte, und dort
stand ihr alter

Weitere Kostenlose Bücher