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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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Plymouth und schmorte in der Sonne. Sam umfaßte ihren Oberarm
und führte sie darauf zu. Er setzte sie hinein. Er schloß sachte die Fahrertür
und lehnte sich durchs offene Fenster, mahnte sie, vorsichtig zu fahren. Sie
erwachte und starrte in den dunklen Fleckenschwarm über ihrem Bett.
    Aus Noahs Zimmer hörte sie
immer wieder ein trockenes Husten; jedesmal setzte es hart und blechern ein,
als hätte er eine Zeitlang versucht, es zu unterdrücken — ein zermürbender
Nachthusten, der nicht weggehen wollte. Sicher lag sie eine halbe Stunde da,
überlegte, ob sie aufstehen und ihm die Hustenpastillen aus dem Arzneischrank
bringen sollte. Vielleicht hörte er von selbst auf. Oder vielleicht schlief er,
dann würde sie ihn ungern wecken. Doch der Husten hielt an, verstummte, begann
dann wieder, gerade als sie dachte: das war’s. Und dann hörte sie die Dielen
knarren; er schlief also nicht.
    Sie stand auf und öffnete ihre
Tür. »Noah«, flüsterte sie.
    Fast im gleichen Augenblick
stand Joel vor ihr. Sie konnte ihn weniger sehen als fühlen, so wie Blinde
fühlen — ein großer, dichter, fester Umriß, der Wärme ausstrahlte, sein
mondblasser Schlafanzug schemenhaft in der Dunkelheit des fensterlosen Flurs.
    »Ja, Delia?« flüsterte er.
    Er hatte falsch verstanden,
merkte sie. »Noah« und »Joel« klangen sehr ähnlich. Manchmal passierte das
auch, wenn sie einen von beiden ans Telefon rief. Sie sagte: »Ich dachte, es
sei Noah.«
    »Ich wollte gerade nach ihm
sehen«, sagte er.
    »Oh.«
    »Ich bringe ihm die
Hustentropfen.«
    »Gut.«
    Doch sie rührten sich beide
nicht.
    Dann tat er einen Schritt
vorwärts und nahm ihren Kopf in seine Hände, und sie reckte ihm ihr Gesicht
entgegen und schloß die Augen, fühlte sich zu ihm hingezogen, umhüllt,
umfangen, seine Lippen fest auf ihren Lippen und seine Hände auf ihren Ohren,
so daß sie nur ihren Herzschlag pochen hörte.
    Das, und Noah, der plötzlich
hustete.
    Sie trennten sich. Delia machte
einen Schritt zurück in ihr Zimmer, griff mit zitternden Händen nach der Tür
und schloß sie vor sich.
     
     
     
    19 Lamb besaß einen trübe-grünen
Maverick mit einem orangefarbenen Kotflügel und einem Drahtkleiderbügel als
Antenne. Innen auf dem Rücksitz stapelten sich diverse Fenstermodelle —
holzgerahmt, Doppelschiebefenster, keins größer als 40 Zentimeter. Alle kleinen
Mädchen aus der Nachbarschaft wollten gern damit spielen. Der Kofferraumboden
war mit durchscheinenden Plastikscheiben ausgelegt; als Delia sich mit ihrem
Koffer darüber beugte, schien ihr, sie stände vor einem glitzernden Gewässer.
Mr. Lamb erklärte, Plastik sei fast unverwüstlich. »Schleifen Sie mal mit Ihrem
Koffer drüber«, empfahl er. »Sie werden kein bißchen was sehen. Unser Produkt
schlägt alles auf dem Markt. Wenn ich zu Haustierhaltern komme? Dann lege ich
prompt ein Stück Rue-Ray auf den Boden und lasse den Hund oder die Katze drüberlaufen
und ordentlich die Krallen drauf wetzen.«
    Rue-Ray, wußte Delia, hieß nach
den Firmenbesitzern, einem Ehepaar, Ruth und Raymond Swann. Sie wohnten über
ihrer Werkstatt in der Union Street, und Mr. Lamb war ihr einziger Vertreter.
Das hatte sie von Belle erfahren, dennoch mußte sie beinah lachen, als Mr. Lamb
sich mit den beiden lallenden, rollenden Rs abquälte.
    Genauso komisch fand sie, daß
er plötzlich so gesprächig war. Bevor sie auf dem Highway 50 waren, war er von
den Sturmfenstern (ihre Lärmschutzqualitäten) über das Hochzeitsgeschenk für
Belle (neue Rue-Ray-Fenster fürs ganze Haus, komplett installiert) bei seiner
Verkaufsphilosophie angelangt. »Man darf nie vergessen«, sagte er und überholte
einen Trecker, »daß jeder gern logisch vorgeht. Jede Handlung läßt sich in
einzelne Etappen zerlegen. Zum Beispiel gibt Ihnen die Kellnerin erst die
Rechnung, und dann reichen Sie ihr die Kreditkarte. Der Autoschlosser möchte
Ihnen alles über Ihre Benzinpumpe erzählen, bevor Sie ihn mit der Reparatur beauftragen.
Also frage ich meine Kunden immer zuerst: ›Merken Sie, daß es hier zieht? Sind
die Nordzimmer kälter als die Südzimmer?‹ Natürlich zieht es. Schließlich
klappern die Fenster wie wild, während ich rede. Aber ich lasse die Leute
selbst draufkommen — erzählen, wie kalt es im Kinderzimmer ist und daß das Kind
nachts einen Schlafsack mit Handschuhen tragen muß — , dann haben sie das
Gefühl, alles geht mit rechten Dingen zu, verstehen Sie? Das fördert den
Verkauf.«
    Leider gehörte er zu

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