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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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haben, bevor sie sterilisiert würde.
    Die Landschaft schien so grün,
so üppig, nach der ausgeblichenen Küste. Delia war irritiert, als sie auf den
Highway 97 einbogen — nie davon gehört — , doch dann glitt sie entspannt über
die brandneue Straße, die noch nicht von aufdringlichen Reklametafeln gesäumt
war.
    Es war, als sei sie Jahrzehnte
fort gewesen.
    Mr. Lamb erklärte, Belle habe
vor Hunden Angst, doch er fand, die Angst steckte nur in ihrem Kopf. Wo sonst,
überlegte Delia. Doch zu der Frage gab er ihr keine Gelegenheit. Delia mußte
lächeln. Es war komisch, wie schnell er sein Glück selbstverständlich nahm.
    Auf dem
Baltimore-Washington-Parkway waren alle Spuren so dicht befahren, daß sie sich
innerlich zusammennahm; als fände ihr Wagen so leichter durchs Gewirr. Sie
schaute nach vorn und entdeckte die Skyline von Baltimore — hohe Schornsteine,
ein Spaghettigeschlinge aus Rampen und Überführungen, monströse Speicher.
Vorbei an Fabriken mit grauen Fenstern und Lagerhäusern mit Wellblechdächern.
Alles sah nach Industrie aus — selbst das neue runde Parkhaus mit seinen
geometrischen Verstrebungen und den durchbrochenen Lichtschächten.
    »Mr. Lamb, eh, Horace«, sagte
sie. »Ich weiß nicht, wohin Sie müssen, aber wenn Sie mich am Bahnhof
rauslassen, da kann ich ein Taxi nehmen.«
    »Oh, Belle hat gesagt, ich soll
Sie bis vor die Tür fahren.«
    »Aber, es ist erst...« Sie
schaute auf ihre Armbanduhr. »Kurz vor zehn«, sagte sie, »und ich muß erst um
elf da sein.«
    »Nein, nein, bleiben Sie schön
hier sitzen. Belle würde mir nie verzeihen«, sagte er.
    Sie hätte sich gewehrt, doch
sie befürchtete, ihre Stimme könne versagen. Plötzlich war sie so nervös. Hätte
sie doch ein anderes Kleid angezogen! Trotz des trüben Wetters war es wärmer
als angenommen, und ihr Tannengrünes war zu dick. Es war auch zu...
Miss-Grinstead-isch, fand sie. Zum Glück hatte sie andere Kleider dabei. (Sie
hatte lange überlegt, was schlimmer war: falsch angezogen zu sein oder einen
Koffer mit zur Hochzeit zu schleppen, und wie ein unsicheres Schulmädchen hatte
sie sich dafür entschieden, einen Koffer mitzunehmen.) Vielleicht gab es, wenn
sie erst im Haus war, irgendwo ein leeres Zimmer, in dem sie sich umziehen
konnte.
    Mr. Lamb stellte gerade eine
Frage. Welche Straße? Sie sagte: »Die Charles hoch«, benutzte so wenig Worte
wie möglich. In ihren Lungen schien zu wenig Luft.
    Wie intim die Stadt war! Wie
altmodisch und verwinkelt! Nach all den Superhighways schlängelte sich die
Charles Street an den hohen Gebäuden vorbei wie ein winzigschmaler Fluß durch
eine Schlucht.
    Sie öffnete ihre Handtasche und
suchte nach Susies Einladung. Ja, da steckte sie, heil und ganz.
    Mr. Lamb bewunderte
mittlerweile das Gelände der Johns-Hopkins-Universität. Er erzählte, sein
Vetter sei dort ein Semester gewesen. »Tatsächlich?« murmelte Delia. Er
erklärte, daß er selbst leider keine Hochschulbildung besäße, obwohl er wüßte,
daß sie ihm bestimmt nützlich gewesen wäre. Delia wünschte, daß er endlich
aufhörte zu reden. So belangloses Zeug! Sie schluckte mehrfach, doch irgend
etwas, das nicht wegging, steckte ihr im Hals.
    Als sie ihm weiter den Weg wies
— gleich links — , verstand er sie nicht. »He?« fragte er wie ein schwerhöriger
alter Mann, wie ein lästiger, schwerhöriger alter Mann.
    An der roten Ampel Ecke Roland
Avenue lief ihnen eine Joggerin entgegen, eine junge Frau, das lange Haar zum
Knoten hochgesteckt, die Finger ihrer rechten Hand umfaßten zierlich zwei
Finger ihrer Linken. Ein Mann in einer Tweedjacke überquerte mit einem winzigen
Chihuahua die Straße. (»Also, den Hund, da könnten Sie mir noch Geld dazu
geben«, sagte Mr. Lamb. »Genausogut könnte ich mir ‘ne Mücke halten.«) Die Luft
schien grün, irisierend, als braute sich ein Sturm zusammen.
    Sie zeigte ihm weiter, wohin,
das Haus, vor dem er parken sollte. (So sah ihr Haus also für Fremde aus: so
braun, so massiv, so abweisend?) Sie sagte: »Ich kann meine Sachen selbst
herausholen, wenn Sie nur den Kofferraumriegel lösen.« Aber nein, er kletterte
umständlich aus dem Wagen, ging nach hinten, brauchte ewig, um ihren Koffer
zutage zu fördern. »Danke! Wiedersehen!« sagte sie, doch selbst dann konnte sie
nicht einfach fortgehen. Er blieb weiter stehen, schwankte leicht auf seinen
großen, abgestoßenen Schuhen und betrachtete eingehend das Haus.
    »Das Runde wäre auch kein
Problem«, meinte er.
    »Wie

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