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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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Rosemarys
Sache.« Jetzt zuckte er mit keiner Wimper, horchte nicht einmal auf. Das hätte
Delia gespürt. Er küßte ihren Hals, seitlich über ihrer Schulter, und sie
merkte, wie die Bettkante in ihren Kniekehlen drückte. Doch das Telefon läutete
weiter. Zehnmal, elfmal. Sie hatte unbewußt mitgezählt. Die Feststellung
versetzte sie in die Lage, sich zurückzuziehen, doch es kam ihr vor, als ginge
sie schleppend gegen einen Sog an. »Oje«, sagte sie atemlos und steckte
umständlich wieder ihre Bluse fest in den Rockbund. »Ich muß wirklich... habe
ich meine Handtasche unten gelassen?«
    Er war auch außer Atem. Er
sagte nichts. Sie sagte: »Ja, ich weiß wo! Auf dem Stuhl. Ich muß mich beeilen,
Sams Mutter kommt zum Essen.«
    Schon lief sie klappernd die
Treppe hinunter. Der Anschluß im Wohnzimmer läutete zum vierzehnten Mal.
Fünfzehn. Sie kam in den Flur unten und griff ihre Handtasche, drehte sich an
der Tür um und sagte: »Du weißt, wir fahren morgen nach — «
    »Nie bleibst du«, sagte er.
»Kaum bist du da, läufst du wieder weg.«
    »Oh, also, ich — «
    »Wovor hast du Angst?«
    Ich habe Angst, mich vor
jemandem auszuziehen, der zweiunddreißig ist, aber das sagte sie nicht. Sie lächelte ihn schief
an. Sie sagte: »Ich besuche dich wieder, wenn ich von der See zurück bin.«
    »Kannst du dich nie für längere
Zeit freimachen? Eine ganze Nacht? Kannst du ihnen nicht erzählen, daß du eine
Freundin besuchst?«
    »Ich habe keine Freundin«,
sagte sie.
    Sie hatte wirklich keine, wenn sie
es genau bedachte. Als sie Sam heiratete, war sie in eine andere Generation
gewechselt und hatte alle hinter sich gelassen, all die früheren Mitschüler aus
der High-School. »Außer Bootsy Fisher, ehrlich gesagt«, erklärte sie. (Die Sam
die Penetrante Tante nannte, ging es ihr durch den Kopf.) »Wir hatten eine
Fahrgemeinschaft wegen der Kinder.«
    »Kannst du nicht sagen, du bist
bei Bootsy.«
    »Oh, nein, ich wüßte nicht, wie
ich — «
    Und dann, weil sie Adrian vom
Mund ablas, daß er sie wieder küssen wollte, winkte sie flatternd und lief
eilig hinaus, fiel dabei beinah über Butch auf der Fußmatte.
    Komisch, dachte sie, als sie
sich in ihren Wagen setzte, wie oft ihr in letzter Zeit ihre High-School-Zeit
in den Sinn kam. Sicher, weil sie jedesmal schwindelig, schwitzig und
zerknittert von ihren geheimen Verabredungen nach Hause eilte; die Wangen
verräterisch rot, die Lippen verschmiert und verquollen, wenn sie sich traute,
einen Blick in den Rückspiegel zu werfen. Am Stoppschild kontrollierte sie, ob
sie alle Knöpfe zugeknöpft hatte, und rückte das Medaillon wieder in die Mitte
ihres Halsausschnitts. Noch einmal hörte sie Adrians Stimme: »Wieso trägst du
immer eine Halskette?« Und dann: »Feg dich mit mir hin, Delia«, und genau wie
damals, als sie noch zur High-School ging, erregte sie die Erinnerung mehr als
der wirkliche Augenblick. Säße sie nicht schon, würden ihr vielleicht die Knie
weich.
    Vielleicht konnte sie wirklich sagen, sie ginge Bootsy besuchen. Nicht über Nacht, natürlich, aber abends.
Bestimmt käme kein Mensch in ihrer Familie auf die Idee, ihr nachzuspionieren.
    Sie parkte in der Einfahrt, aus
der jetzt alle Wagen außer Sams verschwunden waren. Rauchschwaden drangen aus
der anderen Seite des Vorgartens. Wahrscheinlich machte er fürs Abendessen ein
Grillfeuer.
    Sie folgte der Rauchfahne zu
dem kleinen gepflasterten Rechteck unter den Praxisfenstern. Ja, da stand er,
kontrollierte mit hochgeschobener Brille das Grillthermometer. Er trug immer
noch Hemd, Krawatte und Anzughose, nur den weißen Kittel nicht mehr. Er wirkte
so tüchtig, daß Delia einen Augenblick Angst bekam. Wußte er nicht alles? Doch
als er sich aufrichtete, seine Brille auf die Nase rückte, sagte er nur:
»Hallo, Dee. Wo warst du denn?«
    »Oh, ich habe... ein paar
Besorgungen gemacht«, sagte sie.
    Sie konnte nicht fassen, daß er
nicht nachfragte, wieso sie dann mit leeren Händen zurückkam. Er nickte nur und
pochte mit dem Zeigefinger auf das Thermometer.
    Als sie die Stufen zur
Küchentür hinaufstieg, fühlte sie sich wie eine Frau, die aus einem tiefen,
schweren Nachmittagsschlaf erwacht war. Sie ging an Eliza vorbei in den Flur.
»Grillst du auch das Gemüse? Oder tust du es in den Backofen?« rief Eliza ihr
nach.
    Auf dem Grill war dafür kein
Platz mehr. Also kam es in den Backofen, und das wollte sie Eliza sagen, vergaß
es aber, die Worte entfielen ihr, und sie schwebte ins

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