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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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Arbeitszimmer. Es war
leer, Gott sei Dank. Sie hätte es bestimmt nicht mehr ausgehalten, bis sie oben
am Telefon angelangt war. Sie nahm den Hörer ab, wählte Adrians Nummer, ließ es
zweimal läuten und hing dann wieder ein — so signalisierte sie, daß es nicht
seine Schwiegermutter war. Sie wählte wieder, und er hob schon während des
ersten Läutens ab. »Bist du das?« fragte er. Seine Stimme klang dringend und
heftig. Sie sank auf den Hocker und drückte den Hörer fester ans Ohr.
    »Ja«, flüsterte sie.
    »Komm wieder her, Delia.«
    »Wenn ich nur könnte.«
    »Komm und bleib bei mir.«
    »Gern. Nur zu gern.«
    Sams Mutter sagte: »Delia?«
    Delia warf den Hörer auf die Gabel
und sprang auf. »Eleanor!« rief sie. Sie versteckte ihre Hände zwischen den
Rockfalten, um ihr Zittern zu verbergen. »Ich habe nur — ich habe nur —«
    »Entschuldige, daß ich
hereinplatze«, sagte Eleanor, »aber niemand ist an die Tür gekommen.« Sie trat
näher und küßte die Luft neben Delias Ohr. Sie roch nach Seife; sie war eine
Frau ohne Parfüm und ohne Rüschen, trug praktische bügelfreie Hemdblusenkleider
und an den Füßen Nikes, sie hatte ein hübsches Gesicht und ihr weißes Haar rund
und mönchisch geschnitten. »Ich wollte nicht dein Gespräch unterbrechen.«
    »Nein, ich war gerade dabei,
mich zu verabschieden«, sagte Delia.
    »Vorn auf der Veranda hat
jemand diverse Freizeitartikel abgelegt.«
    »Artikel?«
    Vor Delias innerem Auge
schwebte Dr. Adwaters Charisma-Artikel.
    »Federballschläger,
Schlauchboote und dergleichen, überall, jemand kann leicht darüber stolpern.«
    Eleanor gehörte zu den Gästen,
die es als ihre Pflicht betrachteten, auf alarmierende Mängel im Haushalt
hinzuweisen. Wie lange gab die Toilette schon dieses Geräusch von sich? War
ihnen schon aufgefallen, daß der Baum einen morschen Ast hatte? Delia reagierte
dann, als sei sie ebenfalls zu Gast. »Tatsächlich!« antwortete sie. »Komm, ich
bringe dich zu Sam. Er steht draußen am Grill.«
    »Also, ich dachte, ihr wolltet
euch keine Arbeit machen«, erklärte Eleanor und marschierte voran aus dem
Zimmer. Statt einer Handtasche trug sie eine jener praktischen Gürtelbörsen;
ihre war aus neongelbem Nylon und prangte vorn auf ihrem Bauch wie eine
künstliche Schwangerschaft. So machte sie beim Gehen ein leichtes Hohlkreuz,
sonst hielt sie sich gewöhnlich perfekt.
    »Es gibt nur Grillhähnchen«,
sagte Delia, als sie den Flur durchquerten. »Nichts Aufwendiges.«
    »Dosensuppe hätte auch genügt«,
sagte Eleanor. Sie beäugte einen braunen Apfelkrotzen, der mitten auf dem
Treppenpfosten prangte. »Schon, weil du doch für die Reise an die See noch viel
zu tun hast.«
    Sollte das ein Vorwurf sein?
Jedes Jahr kam Sam mit dem Vorschlag, seine Mutter mit an die See zu nehmen,
und jedes Jahr redete Delia es ihm aus. Deshalb veranstalteten sie am Vorabend
ihrer Abreise dieses demonstrative Familienessen. Nicht, daß Delia seine Mutter
nicht mochte. Sie wußte, Eleanor war bewundernswert. Sie wußte, daß sie selbst
sich in Eleanors Situation niemals so fabelhaft durchgeschlagen hätte — früh
verwitwet, gezwungen, einen Sekretärinnen] ob anzunehmen und so den Unterhalt
für sich und ihren kleinen Sohn zu verdienen. (Und nach Sams Berichten war sein
Vater sowieso keine Hilfe gewesen — ein schwächlicher, nutzloser, farbloser
Mann.) Das Problem war, daß sich Delia in Eleanors Gegenwart so unzulänglich
vorkam. Sie kam sich albern, verschwenderisch und chaotisch vor. Ihre Ferien
waren die einzige Zeit im Jahr, in der sie dieses Gefühl für eine Weile abschütteln
konnte.
    Außerdem konnte sie sich die
Eiserne Mama nicht ausgestreckt auf einem Strandlaken vorstellen.
    »Ist Linda angekommen?« fragte
Eleanor auf dem Weg in die Küche. »Sind die Zwillinge sehr gewachsen? Wo
stecken sie alle?«
    Es war Eliza, die am Spülstein
hantierte und antwortete: »Die Zwillinge sind im Schwimmbad«, sagte sie. »Linda
ist gerade mit Susie sie abholen gefahren. Wie geht’s, Eleanor?«
    »Oh, könnte gar nicht besser
gehen. Ist das etwa Spargel? Delia, du meine Güte, weißt du nicht, wie teuer Spargel ist?«
    »Er war im Sonderangebot«, log
Delia. »Ich gare ihn im Backofen, ein neues Rezept, wirklich einfach. Überhaupt
keine Arbeit«, fügte sie beschwörend hinzu.
    »Also, wenn Spargel mit
Grilltauben für dich einfaches Essen ist!«
    »Hähnchen, wenn’s recht ist.«
    »Eine trockene Karotte hätte
mir genügt«, sagte Eleanor.
    Sie

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