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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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vor drei Monaten war seine
Frau doch hier gewesen. Wieso strahlten die Räume dann diese langfristige
Gleichgültigkeit und Vernachlässigung aus? Vom Flur aus wirkte das Wohnzimmer
alles andere als einladend. Seine Wände waren kahl bis auf ein einzelnes
gedämpftes Stilleben über dem Kaminsims, und anstelle eines Sofas standen, wie
beleidigt, drei Stühle im Winkel zueinander. Auf den Tischen befand sich nur
das Nötigste — eine Lampe, ein Telefon; keinerlei Schnickschnack, der dem
Zimmer seine Kühle genommen hätte.
    »Ich habe die
Adwater-Geschichte ausgedruckt«, sagte Adrian. »Ich dachte, vielleicht willst
du sie dir ansehen, ich bin gespannt, wie du sie findest.«
    Er führte sie die enge Treppe
hinauf über den Flur in ein Zimmer, das früher wahrscheinlich ein Wintergarten
oder die Veranda gewesen war. Jetzt war es sein Büro. Drei Wände bestanden aus
trüben Fenstern, auf den Fensterbänken türmten sich Papierstapel. An der
vierten Wand stand ein Einbauschreibtisch mit den verschiedenen Teilen seiner
Computerausrüstung. Dort produzierte Adrian seine Broschüre. Abonnenten aus
vierunddreißig Staaten bezahlten bares Geld für Beeilung bitte, die
Zeitschrift für Zeitreisende, die viermal jährlich erschien. Das Cover war
glänzend himmelblau, das Logo eine Standuhr mit Holzgehäuse auf Speichenrädern.
Jede Ausgabe war eine Mischung aus Science-fiction-Geschichten und populärwissenschaftlichen
Artikeln, dazu Kritiken von Romanen und Filmen über Zeitmaschinen, und
gelegentlich sogar einem Comicstrip oder einem Witz. Vielleicht war das Ganze
überhaupt ein Witz, oder war es ernst gemeint? Angesichts der Leserbriefe hatte
Delia da ihre Zweifel. Viele der Abonnenten schrieben in vollem Ernst.
Zumindest einige behaupteten aus eigener Erfahrung zu schreiben. Und geradezu
anthropologisch klang ihrer Ansicht nach der Artikel, den Adrian ihr nun
überreichte — ein Aufsatz eines gewissen Dr. Charles L. Adwater, der die These
vertrat, daß sogenanntes »Charisma« lediglich göttlicher Glanz und Charme des
Zukunftswesens sei, das einen Abstecher in die Gegenwart machte. Bedenken
Sie, schrieb Dr. Adwater, wie einfach Sie und ich uns in den Vierzigern
durchs Leben bewegen würden, die uns aus heutiger Sicht im großen und ganzen
wie eine naive Zeit vorkommen und in denen ein Bewohner unseres Jahrzehnts
vermutlich mit relativ wenig Aufwand einen beachtlichen Eindruck hinterlassen
kann.
    »Würdest du sagen, was vorkommt
oder die vorkommen?« fragte Adrian. »Eigentlich geht beides.«
    Delia antwortete nicht. Sie
ging beim Lesen im Zimmer auf und ab, kaute an der Unterlippe, blinzelte auf
das Gedruckte, das wie gepunktet vor ihren Augen flimmerte und bröckelig war
wie Borke auf einem verheilten Dornenkratzer. »Also...« sagte sie wie
geistesabwesend, wanderte in den Flur und blätterte die zweite Seite auf.
    Adrian folgte. »Meiner Meinung
nach ist Adwaters Stil leicht angestaubt«, sagte er, »aber zu viele Veränderungen
darf ich nicht vorschlagen, weil er eine Koryphäe auf seinem Gebiet ist.«
    Wie wurde man zur Koryphäe im
Zeitreisen? Delia war beeindruckt, aber nur kurz. Der Besuch in Adrians Büro
war eigentlich ein Vorwand, was sogar Adrian klar sein mußte. Eigentlich war
nur wichtig, daß sie oben war: im ersten Stock herumstöberte, wo die Schlafzimmer lagen, einen Blick in alle Zimmer warf. Adrian schlief in einem düsteren
kleinen Raum; dorthin war er gezogen, als Rosemary ihn verlassen hatte, also
hatte Delia, während sie Seite drei aufschlug, keine Hemmungen, ins
Eheschlafzimmer zu schlendern. Sie ging und machte an einer Kommode halt — sie
brauchte zum Lesen mehr Licht, und über der Kommode war ein Fenster, konnte sie
sich herausreden. Hinter ihr strich Adrian ihren Kragen glatt. Seine Finger
schienen zu flüstern. »Wieso trägst du immer eine Halskette?« fragte er sehr
dicht an ihrem Ohr.
    »Hmm?« sagte sie ganz leise.
Sie blätterte weiter, blindlings.
    »Du trägst immer eine
Perlenkette oder einen Anhänger, und heute dieses Herzmedaillon. Immer so
ordentlich um den Hals, und diese braven runden Kragen.«
    »Reine Gewohnheit«, sagte sie,
aber ihre Gedanken rasten. Meinte er, daß sie albern aussah, unpassend für ihr
Alter?
    Er hatte sie nie gefragt, wie
alt sie war, und sie hätte ihn zwar nicht belogen, fand aber unnötig, selbst
davon anzufangen. Hätte er ihr erzählt, er sei zweiunddreißig, hätte sie
geantwortet: »Zweiunddreißig! Du könntest mein Sohn sein!«, hätte

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