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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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schneiden lassen und hatte sie prompt
zum Erstsemester-Tee eingeladen. Jetzt saß er stolz an ihrer Seite, einen Arm auf
ihrer Stuhllehne, und strahlte seine Familie an. Klein wie er war (er glich
Delias Vater), wirkte er neben Velma männlich und imposant.
    »Allerdings bin ich im
vergangenen Jahr in Pittsburg auf einer Farbberater-Tagung gewesen«, erinnerte sich
Velma. »Da war ich über Nacht weg und habe Rosalie bei meiner Mutter gelassen.«
    Rosalie, die vor dem anderen
Extra-Teller hockte, sah mit riesigen, feuchtschimmernden Augen hoch und warf
Velma einen Blick zu, den Delia als schiere Verzweiflung interpretierte.
    »Jeder in unserem Laden ist
ausgebildet, Sie farblich zu beraten«, fuhr Velma fort. Redete sie Eleanor an,
ausgerechnet? Eleanor, mit wohlwollender Miene, nickte zustimmend.
    »Manche Leute sollen unbedingt
kühle Farben anziehen und manche warme«, erklärte ihr Velma, »und nie, nie im
Leben, sollen sie wechseln, obwohl: Sie wären entsetzt, wie viele das
versuchen.«
    »Hängt das vom Temperament ab,
meine Liebe?« fragte Eleanor.
    »Wie?«
    Aber Eleanor wurde abgelenkt,
denn Sam füllte gerade ihren Teller. »Oh, bitte nicht, Sam«, sagte sie, »doch
nicht so eine große Portion!«
    »Ich denke, du wolltest Brust.«
    »Also schon, aber nur eine
klitzekleine. Die ist viel zu groß für mich.«
    Er angelte mit der Gabel ein
anderes Stück und hielt es hoch. »Gut?«
    »Oh, das ist ja riesig!«
    »Es gibt nichts Kleineres,
Mutter.«
    »Kannst du das nicht
durchschneiden? Soviel schaffe ich niemals.«
    Er legte es wieder auf die
Platte und halbierte es.
    »Diese eine Dame«, erzählte
Velma den Anwesenden, »kam doch ganz in Rosa an, und ich gleich: ›Meine Dame,
Sie machen das ja völlig völlig falsch. Kühle Farben müssen Sie tragen‹, sage
ich, ›bei Ihrem Hautton.‹ Sie sagt: ›Oh, aber deshalb nehme ich doch immer
warm.‹ Sagt: ›Ich finde nämlich, Gegensätze ziehen sich an.‹ Ich konnt’s nicht
fassen. Ich konnt’s wirklich nicht fassen.«
    »Sam, mein Lieber, das ist
sechsmal soviel Spargel, wie ich schaffe«, sagte Eleanor.
    »Das sind drei Stangen, Mutter.
Weniger geht nicht.«
    »Gib mir eine halbe Stange,
wenn es dir nichts ausmacht.«
    »Sie, zum Beispiel«, Velma
drehte sich zu Eliza, »Sie sähen klasse aus in Knallrot. Mit dem pechschwarzen
Haar. Dieses Rehbraun ist gar nicht günstig für Sie.«
    »Ich mag aber Rehbraun«,
verteidigte sich Eliza.
    »Und Susie, ich wette, du hast
eine Farbberatung hinter dir. Stimmt’s? Türkis steht dir haarscharf.«
    »Alles andere war in der
Wäsche«, sagte Susie. Dennoch konnte sie ein zufriedenes Lächeln kaum
unterdrücken.
    »Ich ziehe Rosalie nur in
Türkis an, fast nur. In jeder anderen Farbe wirkt sie wischiwaschi.«
    »Sam, ich möchte dich nicht
belästigen«, sagte Eleanor, »aber ich reiche dir noch einmal meinen Teller.
Würdest du bitte etwas Kartoffelsalat herunternehmen und jemand anderem geben.«
    »Wieso willst du ihn nicht,
Mutter?«
    »Aber die Portion ist viel zu
groß, mein Lieber.«
    »Dann iß, soviel du schaffst,
und laß den Rest liegen.«
    »Ach, du weißt doch, wie ungern
ich Essen liegen lasse.«
    »Dann schieb’s dir rein, bis du
platzt, Mutter!«
    »Du meine Güte«, sagte Eleanor.
    Das Telefon läutete.
    Delia sagte: »Carroll, gehst du
ran? Wenn es ein Patient ist, sag, wir essen.«
    Nicht daß sie wirklich glaubte,
ein Patient ließe sich so leicht abschütteln.
    Carroll schlurfte in die Küche,
murmelte etwas vom Erwachsenentelefon, und Delia nahm einen Bissen von ihrer
Hähnchenkeule. Sie war trocken und faserig wie alte Baumrinde, weil sie zu
lange im Backofen gewesen war.
    Carrolls Kopf tauchte in der
Tür auf: »Für dich, Mama.«
    »Dann frag, wer es ist und ob
ich zurückrufen kann.«
    »Er sagt, es ist wegen der
Zeitmaschine.«
    »Oh!«
    Sam sagte: »Zeitmaschine?«
    »Ich bin gleich wieder da«,
sagte Delia und legte ihre Serviette beiseite.
    »Möchte dir jemand eine
Zeitmaschine verkaufen?« fragte Sam.
    »Nein! Nicht daß ich wüßte.
Oder, ich weiß nicht...« Sie sank auf ihren Platz zurück. »Sag, wir brauchen
nichts«, erklärte sie Carroll.
    Carrolls Kopf verschwand
wieder.
    Delia hatte das Gefühl, ihr
wäre der Bissen auf halbem Wege im Hals steckengeblieben. Sie griff nach dem
Brötchenkorb und sagte: »Thérèse? Marie-Claire? Nehmt eins und reicht den Korb
bitte weiter.«
    Als Carroll an den Tisch
zurückkehrte, sah sie ihn nicht einmal an. Sie reichte die Butter den

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