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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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Zweimal sind sie wieder in dem
Restaurant gewesen, wo sie sich verlobt haben. Sie glauben, vielleicht hilft
ein Baby. Aber kaum werfe ich einen Blick aus meiner Haustür, was sehe ich?
Ihren Wagen, gegenüber auf der Straße. Sie, wie Sie ihn vor der Haustür
abküssen, können den Hals nicht voll kriegen, gehen hoch und befummeln ihn am
Schlafzimmerfenster, vor versammelter Nachbarschaft.«
    Delia fühlte, wie ihr die Hitze
ins Gesicht stieg. Sie spürte, daß alle sie wie vom Blitz getroffen anstarrten.
    Sam sagte ruhig: »Delia, weißt
du irgend etwas darüber?«
    »Nein! Nichts!« rief sie. »Sie
hat alles erfunden! Sie verwechselt mich!«
    »Und was ist das?« fragte die
alte Dame und machte sich an ihrer Handtasche zu schaffen. Das Band oben an
ihrem Beutel endete in einem Schieber, und sie brauchte Minuten, so schien es,
um ihn aufzuschieben, während alle wie gebannt schwiegen und warteten. Delia
merkte, daß sie seit einiger Zeit nicht mehr Luft geholt hatte. Sie war darauf
gefaßt, daß alles, absolut alles aus dieser Handtasche zum Vorschein kommen
konnte — schwül, grell, sexy, aber was? Doch was die Person am Ende zutage
förderte, war ein Foto. »Sehen Sie? Sehen Sie?« fragte sie und hielt es hoch,
schwenkte es hin und her.
    Es war ein Polaroidfoto,
dermaßen unterbelichtet: Dunkelheit im Quadrat. Doch erst als Ramsay wieder
kicherte, begriff Delia, daß sie in Sicherheit war.
    »Nun denn«, sagte Sam, »machen
Sie sich keine Sorgen, ich bin sicher, Ihre Tochter ist sehr glücklich
verheiratet...« Wie ein Kavalier führte er die alte Dame zur Tür. »Darf ich Sie
zu Ihrem Wagen begleiten?« fragte er.
    »Oh. Also... ja, gut, vielleicht...
ja, gut«, sagte sie. Sie war immer noch mit ihrer Handtasche zugange, ließ sich
jedoch hinausbegleiten. Sie ging an seiner Seite, ein wenig benommen, unsicher;
Delia empfand plötzlich Mitleid.
    »Wer war das denn?«
fragte Marie-Claire überdeutlich.
    Ramsay sagte: »Oh, bloß jemand
für deine Tante Delia; du weißt doch, was sie für eine Sirene ist«, und alle
bewegten sich wieder und lachten.
    Es war verrückt, das wußte
Delia, aber den Bruchteil einer Sekunde lang überlegte sie wirklich, ob sie es
beichten sollte. Nur, um es ihnen zu zeigen. Natürlich tat sie es nicht. Sie
lächelte in die Runde und lehnte sich zurück, stellte den Wasserkrug links
neben sich. »Wer will noch Hähnchen?« fragte sie und konterte eisern Elizas
abschätzenden Blick.
     
    * * *
     
    An diesem Abend war Susie mit
Abwaschen an der Reihe, und Eleanor bot ihre Hilfe an. Sie ließe nicht zu, daß
Delia auch nur den kleinen Finger krumm machte, sagte sie, nach diesem
aufwendigen Essen, Also verließ Delia die Küche, nur scheinbar widerwillig; doch
anstatt mit den anderen auf die Veranda zu gehen, lief sie nach oben in ihr
Schlafzimmer. Sie schloß die Tür hinter sich, setzte sich auf den Bettrand und
griff nach dem Telefonhörer.
    Er antwortete beinah auf der
Stelle. Sie war darauf vorbereitet, das Zweimal-läuten-lassen-Theater
durchzuspielen, doch er meldete sich gleich: »Hallo?«
    »Adrian?«
    »Oh, Gott, Delia, ist sie
gekommen?«
    »Sie ist gekommen.«
    »Ich habe versucht, dich zu
warnen. Ich habe bei dir zu Hause angerufen, und obwohl dein Mann dran war,
habe ich — «
    »Mein Mann? Wann?«
    »War das nicht dein Mann?«
    »Oh, Carroll. Mein Sohn. Zur
Abendessenszeit.«
    »Ja, und ich habe gehofft,
du... das war dein Sohn?«
    »Ja, der jüngere. Carroll.«
    »Aber er war alt.«
    »Alt? Er ist nicht alt!«
    »Er klang wie ein erwachsener
Mann.«
    »Na, das ist er nicht«, sagte
Delia knapp. »Adrian, wieso hast du mich vor dem Eingang und am Fenster geküßt,
wo du wußtest, deine Schwiegermutter wohnt gegenüber?«
    »Also hat sie getan, was sie
mir angedroht hat?«
    »Sie ist gekommen und hat meiner
Familie mitgeteilt, ich hätte einen Geliebten, wenn du das meinst.«
    »Großer Gott, Delia, was haben
sie dazu gesagt?«
    »Ich glaube, sie haben sie für
verrückt gehalten oder sonst was, aber... Adrian, sie hat behauptet, ihr seid
glücklich verheiratet.«
    »Natürlich hat sie das. Du
weißt, daß sie das glauben möchte.«
    »Sie hat behauptet, du und
Rosemary träft euch öfter; ihr wärt zweimal in dem Restaurant gewesen, wo ihr
euch verlobt habt.«
    »Das stimmt schon.«
    »Wirklich?«
    »Um die Lage zu besprechen;
sicher. Wir haben schließlich viel gemeinsam. Viel gemeinsame Vergangenheit.«
    »Aha.«
    »Aber es war nicht, wie du
denkst. Wir waren zum Essen

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