Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
Vom Netzwerk:
Brötchen
hinterher, und erst dann sah sie auf und hielt Elizas Blick stand.
    Vor Eliza mußte sie sich in
acht nehmen. Eliza war ihr manchmal nicht geheuer.
    »Dieses Geschirr gehörte
unserer Urgroßmutter«, erzählte Linda den Zwillingen. »Cynthia Ramsay hieß sie.
Sie war in Baltimore eine stadtbekannte Schönheit, und der ganze Ort fragte
sich, wieso sie ausgerechnet diesem kleinen, dicken Niemand, Isaiah Felson, ihr
Jawort gab. Aber er war Arzt, versteht ihr, und er versprach ihr, sie bekäme
nie Tuberkulose, wenn sie ihn heiratete. Versteht ihr, die halbe Familie war an
Tuberkulose gestorben. Also war klar, daß sie ihn heiratete und mit ihm nach
Roland Park zog, wo sie ihr Leben lang gesund wie ein Pferd blieb und außerdem
zwei gesunde Kinder zur Welt brachte, eins davon war euer Großvater. Ihr
erinnert euch an euren Großvater?«
    »Er hat uns verboten, im Haus
Rollschuh zu laufen.«
    »Genau. Jedenfalls hat eure
Großmutter ihr Aussteuergeschirr aus Europa kommen lassen, und von den Tellern
eßt ihr heute abend.«
    »Außer Rosalie«, sagte Marie-Claire.
    »Was, Herzchen?«
    »Rosalies Teller gehört nicht zum
Hochzeitsgeschirr.«
    »Nein, Rosalies stammt von
Woolworth«, sagte Linda und reichte Eleanor die Butter, ohne zu merken, daß
Rosalies Augen noch ein wenig feuchter wurden.
    »Um Himmels willen, für mich keine Butter«, sagte Eleanor.
    Warum hatte er sie angerufen?
überlegte Delia. Wie untypisch von ihm. Sicher wollte er ihr etwas Entscheidendes
mitteilen. Sie hätte an den Apparat gehen sollen. Am besten, sie ginge in die
Küche, holte vielleicht Wasser und rief ihn zurück.
    Sie griff den Wasserkrug, stand
auf, und im gleichen Augenblick läutete es an der Haustür. Sie erstarrte. Ihr Herz
klopfte bis zum Hals, und ihr erster Gedanke war: Adrian. Er kam, sie zu holen;
er wollte nicht länger vernünftig sein. In Windeseile lief in ihrem Kopf ein
ganzer Film ab — die Familie fassungslos, während sie sich entführen ließe, die
Reise mit ihm durch die Nacht (womöglich in einer Pferdekutsche) und ihre
sorglose Zweisamkeit in einer sonnigen, weißgetünchten Kammer an mediterranen
Gestaden. Inzwischen sagte Sam: »Ich habe ihnen hundertmal erklärt...«, stand
auf und ging in den Flur, nahm an, es sei ein Patient. Vielleicht war es einer.
Delia blieb stehen, horchte. Ein Zwilling sagte: »Rosalie hat eine
popelige Papierserviette«, und am liebsten hätte Delia ihr eins auf den Mund
gegeben.
    Es war eine Dame. Eine ältere,
aufgebrachte Dame, die unverständlich vor sich herredete. So. Also doch, eine
Patientin. Delia war unerwartet erleichtert. Sie sagte: »Nun! Möchte jemand
irgend etwas aus der Küche?« Doch bevor sie sich auf den Weg machen konnte,
führte Sam seinen Besuch ins Zimmer.
    Gut über siebzig, ein teigiges
Faltengesicht mit dickem Rouge und dunkelroten Lippen, ein schwarzgefärbter
Lockenwust — die Frau näherte sich auf unsäglich winzigen, zehenfreien Schuhen,
die kaum unter dem unförmigen schwarzen Kleid zum Vorschein kamen. Mit ihren
fetten, beringten Händen umfaßte sie eine Beuteltasche, und von ihren
Ohrläppchen baumelten Diamanttropfen. All dies nahm Delia wahr und sah
gleichzeitig hinter der Frau Sams erstauntes Gesicht. »Dee?« sagte er, »diese
Dame sagt -«
    Die Frau fragte: »Sind Sie Mrs.
Delia Grinstead?«
    »Ja, wieso?«
    »Ich möchte, daß Sie den Mann
meiner Tochter in Ruhe lassen.«
    Am Tisch herrschte plötzlich
äußerste Aufmerksamkeit. Delia spürte es, auch wenn sie sich zwang, die Frau
anzuschauen. Sie sagte: »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.«
    »Sie wissen genau, was ich
meine! Mein Schwiegersohn, Adrian Bly-Brice. Oder haben Sie schon den Überblick
verloren? Haben Sie so viele Liebhaber, daß Sie sie nicht mehr
auseinanderhalten können?«
    Jemand kicherte. Ramsay. Delia
empfand es, gelinde gesagt, als Beleidigung, doch sie konzentrierte sich auf
das Naheliegende. Sie sagte: »Mrs. hm, also wirklich — «
    Ärgerlich, daß sie wie ein
kleines Mädchen klang!
    »Sie zerstören eine glückliche
Ehe«, wetterte die alte Dame. Sie stand ihr gegenüber am Tisch, an Sams leerem
Platz. Sie betrachtete Delia aufgebracht, die Wimpern um ihre Augen waren dicht
mit Maskara verkleistert und beschatteten das Gesicht wie kleine Markisen.
»Sicher haben sie ihre Hochs und Tiefs, wie alle jungen Paare«, sagte sie,
»aber sie versuchen, damit fertig zu werden, das sag’ ich Ihnen! Sie treffen
sich und gehen zusammen aus, hat er das erzählt?

Weitere Kostenlose Bücher