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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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Sie zurückkommen...«
    Sprachlos bahnte sich Delia
einen Weg nach vorn. Sie setzte sich auf den Beifahrersitz und stellte ihre
Tasche auf die Knie. Neben ihr machte es sich Vernon hinter dem Lenkrad bequem.
Als er die Zündung einschaltete, erwachte der Wagen aufheulend plötzlich zu
Leben; sie stellte sich vor, wie er es die ganze Zeit vor Ungeduld kaum
ausgehalten hatte.
    »Hören Sie das?« fragte Vernon.
    Sie nickte. Wahrscheinlich lag
es am vibrierenden Motor, daß ihre Zähne klapperten.
     
    * * *
     
    Sie fuhren den Highway i zur Grenze
nach Maryland, vorbei an riesigen Geschäften für Strandbedarf und
funkelnagelneuen viktorianisch aufgemotzten Wohnsiedlungen, dem Durcheinander
von Cafés und Apartments in Fenwick Island. Delia beruhigte sich immer noch,
sie fände ja allein zurück nach Hause. Es war allerdings ein langer Marsch (der
jeden Augenblick länger wurde). Und als sie Ocean City erreichten, mit all den
Bars, dem Glitter und Flimmer — in Ocean City gab es Busse, wenigstens das. Sie
konnte einen Bus bis zur äußersten nördlichen Stadtgrenze nehmen und dann zu
Fuß weitergehen. Also fuhr sie schweigend, fühlte sich beinah entspannt,
während Vernon, die Unterarme aufs Lenkrad gestützt, den Wagen steuerte. Er
gehörte in die Kategorie Autofahrer, die sich beim Fahren mit den übrigen Verkehrsteilnehmern
unterhielten. »Laßt euch nicht hetzen, Leute«, sagte er, als ein Wagen vor ihm
abrupt bremste, und er schnalzte mit der Zunge, als vier junge Männer mit ihren
Surfbrettern die Straße überquerten: »Mensch, seid ihr heiße Typen«, meinte er.
Delia sah ihnen nach. Der größte trug die gleichen unregelmäßig gestreiften
Shorts wie Carroll — die neue Mode, weit und bis ans Knie.
    Wenn der Familie auffiel, daß
sie weg war, waren sicher alle ratlos. Entgeistert. Wenn sie lange genug
wegbliebe, fürchteten sie sicher, ihr wäre etwas zugestoßen. »Oder hatte sie
etwas Bestimmtes vor?« würde Sam schließlich die Kinder fragen. »Hat einer von
euch irgendwas gesagt? Habe ich irgendwas gesagt? Wieso habe ich geglaubt, sie
sei nicht der Typ, der eine Affäre hat?«
    Ein Hochgefühl erfaßte sie. Sie
fühlte sich innerlich auf einmal so leicht.
    Dann — inzwischen würden sie
sich echte Sorgen machen — riefe sie an. Aus der Telefonzelle, bevor es dunkel
wurde: »Ich bin’s«, würde sie sagen. »Habe nur ‘ne kleine Spritztour über Land
gemacht; kann jemand kommen und mich abholen?« Als wäre nichts gewesen.
    Als Vernon auf den Highway 50
abbog und landeinwärts weiterfuhr (mittlerweile redete er über das
›Differentialgetriebe‹, was immer das war), sagte sie immer noch nichts von Anhalten.
Die Kaffeemaschine klapperte auf dem Kocher; scheppernd fuhren sie über eine
Brücke, die sie noch nie gesehen hatte, und kamen in eine dürre, ausgebleichte
Gegend, die ihr völlig fremd war. Sie starrte einfach aus dem Fenster. Sie
fuhren an vergilbt-weißen Häusern vorbei, die wie Pappschachteln aussahen,
umgeben von gepflegtem Rasen — jeder Grashalm einzeln wie per Hand geschnitten.
Sie rauschten durch flimmernden Laubwald. »Eine Sache, die er verpatzt hat, er
hat keinen Sprechfunk«, sagte Vernon und meinte offensichtlich seinen Bruder.
Doch Delia malte sich aus, wie gerade und schmal Sams Mund immer war, wenn er
sich ärgerte. Und ihr fiel ein, daß er womöglich auch zu den Kindern sagte: »Na
ja, wo sie schon mal weg ist, können wir wenigstens alles richtig in Ordnung
bringen.«
    »Außerdem haben Sie sicher
gemerkt, daß es kein Stereo gibt«, sagte Vernon. »Das ist typisch mein Bruder:
auf Musik ist er nicht scharf. Ich sage immer, wenn einer keine Musik mag,
stimmt was nicht mit ihm.«
    Vielleicht würde Eleanor
einspringen (wenn schon von Ordnung die Rede ist). Oh, Eleanor käme mit Freuden
— würde einen Speiseplan fürs nächste Jahr und einen Haushaltsplan ä la Eiserne
Mama aufstellen.
    »Das finden Sie sicher
schrecklich«, sagte Vernon. »Daß ich an meinem Bruder herummäkele.«
    Delia sagte: »Nein, nein...«
    Da und dort standen finster und
erhaben einzelne alte Gehöfte am Ende langer Auffahrten, umgeben von Feldern;
auf den Dächern glitzerten Blitzableiter. Wenn sie dort wohnte! Es wäre sicher
gesund. Delia stellte sich vor, wie sie die Hühner fütterte, ihnen Mais oder
Weizen aus ihrer großen Schürze zuwarf. Aber zuerst müßte sie einen Bauern
heiraten. Es mußte immer zuerst ein Mann ausfindig gemacht werden, um etwas in
Bewegung zu setzen.
    »Aber

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