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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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komisch. Sie
mußte lachen, und dann drehte sie sich um, ob jemand sie gehört hatte. Aber der
Platz war menschenleer, keine der vier grünen Bänke besetzt. Wagen umkurvten
den Platz, erst einer, dann zwei; und Fußgänger gingen in niedrigen Backstein-
und Holzhäusern ein und aus, doch keiner schien sie zu bemerken.
    Dennoch; sie war sich plötzlich
ihrer Aufmachung bewußt, weniger der Strandjacke als des Badeanzugs darunter.
Das Gefühl war unangenehm, knitterig, ausgebeult. Sie gäbe alles auf der Welt
für Unterwäsche. Also überquerte sie den kleinen Platz und betrachtete die
Ladenreihe auf der anderen Straßenseite. Eindeutig hatte die Gegenwart die
Stadt eingeholt. Jahrhundertalte Gebäude — Backstein, so abgegriffen wie alte
Radiergummis, und Fensterläden, deren Holz vom Benutzen ganz grau war —
beherbergten jetzt die »Wilde Video Welt‹, »Patricias Haarparadies‹ und »Duft
in der Luft‹, den Duftblumenspezialisten. Allein ein Geschäft schien
unverändert, das kleine Billigkaufhaus an der Ecke, mit seinem rotgoldenen
Schnörkelschild und dem Fenster voll Fähnchen und Flaggen.
    Sie hatte eingebläut bekommen,
nur Qualitätsunterwäsche zu kaufen, egal wie sparsam sie sonst war, aber dies
war ein Notfall. Sie überquerte die Straße; als sie das Kaufhaus betrat, wehten
ihr Bonbon- und Billigkosmetikaduft, alter Holzbodengeruch entgegen.
Kassenstraßen waren offensichtlich noch nicht eingeführt. An jeder Theke stand
ein Verkäufer neben einer Registrierkasse. Ein Mädchen mit seidigem Haar
kassierte klingelnd das Geld für ein Kindermalbuch; eine ältere Dame verpackte
Backtrennpapier für eine junge Dame. In der Wäscheabteilung verkaufte ein Mann,
dummerweise; Delia wählte hastig, was sie brauchte, und überreichte ihm die
Ware, ohne ihn anzusehen. Ein schlichter weißer Nylonbüstenhalter und weiße
Baumwollslips. Die Slips kamen im Dreierpack. Andere Sorten hätte sie auch
einzeln kaufen können, aber sie hatte nach dem Dreierpack gegriffen. Sie
ertappte sich bei dem Gedanken, Nur für den Fall, daß ich länger als eine
Nacht wegbleibe. Dann, als sie das Geld abzählte, beruhigte sie sich: Schließlich
kann ich sie genausogut zu Hause tragen. Es bedeutet noch gar nichts.
    Jetzt besaß sie Unterwäsche,
konnte sie aber nicht anziehen, denn im Billigladen hatte sie keine
Damentoilette gefunden. Sie ging hinaus, stopfte das Päckchen in ihre Tasche
und schaute die Straße entlang. Nebenan war »Debbi’s Modelädchen‹,
Vierziger-Jahre-Schaufensterpuppen mit aufgepinselten Frisuren trugen den
neuesten Chic — breitschultrige Herrenanzüge oder lose Leinenkleider, oben weit
und unten schmal. Überhaupt nicht Delias Geschmack, aber drinnen gab es sicher
eine Umkleidemöglichkeit. Sie rauschte mit entschlossener Miene in den Laden
und griff das erstbeste Kleid von einer Stange, huschte nach hinten, wo
offenbar eine Reihe Kabinen waren. »Kann ich Ihnen helfen?« rief eine Dame
hinter ihr her, aber Delia sagte: »Oh, nein, danke, ich will nur...« und
verschwand hinter einem Vorhang.
    Die Unterwäsche paßte, Gott sei
Dank. (Sie gab sich große Mühe, leise mit ihrer Tasche zu hantieren.) Welche
Erleichterung, sie war wieder wohlverpackt. Sie steckte den Badeanzug
zusammengelegt ein. Dann griff sie nach Sams Jacke, doch kaum fiel ihr Blick
darauf, zögerte sie. Es war mit einemmal so offensichtlich eine Badejacke. Sie
betrachtete das Kleid, das sie mitgenommen hatte — ein graues, undefinierbares
Strickkleid. Viel zu lang, das sah sie gleich, dennoch streifte sie es vom
Bügel und zog es über den Kopf. Es roch beißend neu. Sie strich den Rock glatt,
zog seitlich den Reißverschluß zu, drehte sich um und trat ihrem Spiegelbild
entgegen.
    Sie hätte eher angenommen, daß
sie wie ein Kind aussähe, das Verkleiden spielt, denn der Saum reichte ihr fast
bis an die Knöchel. Statt dessen war der Anblick völlig unerwartet: eine ein
wenig müde wirkende, ernsthafte junge Frau in einem schmalen perlgrauen
Schlauchkleid. Vielleicht eine Sekretärin oder Bibliothekarin, eine von diesen
Chefsekretärinnen, den heimlichen Drahtzieherinnen, die einen ganzen Laden
schmissen. Sie malte sich aus, wie sie entschieden sagte: »Das finden Sie in
der Akte Jones, Mr. Smith«, oder »Vergessen Sie nicht, Sie haben heute Lunch
mit dem Bürgermeister; sicher brauchen Sie die Unterlagen über die...«
    »Alles in Ordnung da drinnen?«
rief die Verkäuferin.
    »Oh, bestens.«
    »Kann ich Ihnen noch etwas

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