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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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»Vernon?«
    »Was ist?«
    Sie hielt die Luft an.
    »Hat wer gerufen?« fragte eine
Männerstimme.
    Er holperte die Treppe hinab —
ein rundlicher junger Mann mit einem Notizbrett in der Hand, in Jeans und
rotkariertem Hemd. Sein Mondgesicht, die rosig runden Wangen und die
Knubbelnase, sein Knopflochmund beruhigten sie einigermaßen, dennoch war sie
fast zu atemlos, ihn zu fragen: »Wer —?«
    »Ich heiße Vernon, haben Sie
nicht meinen Namen gerufen? Ich bin wegen dem Dach hier.«
    »Oh«, sagte sie. Sie lachte
unsicher und drückte ihre Strandtasche an die Brust. »Ich hatte eigentlich
meine Katze gerufen«, erklärte sie.
    »Also, eine Katze habe ich hier
nirgends gesehen. Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe.«
    »Sie haben mich nicht
erschreckt!«
    Er warf ihr einen zweifelnden
Blick zu. Die weiche Haut unter seinen Augen glitzerte verschwitzt; er wirkte
ernst und jung. »Jedenfalls«, sagte er. »Es sieht so aus, als müßte ich das
Blech um den Schornstein erneuern. Aber nicht heute; ich muß langsam nach
Hause. Also, wenn die Leute vom Makler anrufen, sagen Sie, ich melde mich
wieder, in Ordnung?«
    »In Ordnung«, sagte Delia.
    Er winkte freundschaftlich mit
dem Notizbrett und ging an ihr vorbei und hinaus. Auf der Treppe drehte er sich
um und fragte: »Wie gefällt Ihnen mein Wagen?«
    »Wagen?«
    »Ist der nicht Klasse?«
    Das war er tatsächlich. Sie
fragte sich, wie sie den hatte übersehen können. Groß wie ein Wohnwagen,
bronzemetallic gespritzt und seitlich zum Schmuck eine Wüstenlandschaft. »Sogar
‘ne Mikrowelle«, sagte Vernon gerade, »und ‘nen schicken kleinen Eisschrank...«
    »Heißt das, man kann darin
wohnen?«
    »Klar, was sonst?«
    »Ich dachte, Transporter hätten
nur Sitzreihen.«
    »Waren Sie noch nie in einem
Wohnmobil? Mensch, los, ich zeig’ es Ihnen.«
    »Oh, ich weiß nicht, ob — «
    »Los! Das zieht Ihnen die
Socken aus.«
    »Na gut, ich guck mal rein«,
sagte Delia, und sie folgte ihm, immer noch ihre Tasche im Arm. Ein Teil der
Wüstenlandschaft entpuppte sich als Schiebetür. Vernon schob sie auf und trat
beiseite, damit sie hineinschauen konnte. Sie steckte den Kopf ins Innere und
stellte fest, daß die Seitenwände halbhoch mit goldbraunem Teppichboden bezogen
waren; es gab Einbauschränke und hinten ein Hochbett, darunter Stauraum. Zwei
Sitze mit hohen Rückenlehnen standen gegenüber der Windschutzscheibe — das
einzige Anzeichen, daß es sich doch um ein Transportmittel handelte.
    »Mann«, sagte Delia.
    »Steigen Sie ein. Ich führe
Ihnen mein Unterhaltungscenter vor.«
    »Sie haben ein
Unterhaltungscenter?«
    »Der letzte Schrei«, erklärte
er. Er stieg zuerst ein, und der Wagen wippte unter seinem Gewicht, dann
reichte er ihr seine Hand, so groß wie ein Baseballhandschuh. Sie griff zu und
kletterte ins Innere. Der ölige, aufregende Geruch des neuen Teppichbodens
erinnerte sie an Flughäfen und Verreisen.
    »Trara!« rief Vernon.
Schwungvoll öffnete er einen Schrank. »Sache ist«, sagte er, »hier im Boden von
diesem Fernseher ist ein Schlitz für Videos, sehen Sie? Eingebauter
Videorecorder. Abends schwenke ich den Kasten raus und sehe mir vom Bett aus
die neuesten Filmhits an.«
    »Sie wohnen hier immer?«
    »So ziemlich«, sagte er. »Also,
sozusagen. Jetzt schon.« Dann hielt er den Kopf schief und warf ihr einen Blick
zu. »Also ehrlich gesagt, in Wahrheit gehört der Wagen meinem Bruder.«
    Er fürchtete, die Mitteilung
würde sie zutiefst enttäuschen. Blauäugig betrachtete er sie besorgt und
wartete, hielt die Luft an, bis sie sagte: »Oh, wirklich?«
    »Ich habe wohl den Eindruck
erweckt, er gehört mir«, sagte er. »Aber, verstehen Sie, mein Bruder macht
seine Angeltour, er und seine Frau. Hat seinen Wagen bei Mutter in Nanticoke
Landing abgestellt. Sie soll aufpassen, daß keiner damit fährt. Keiner, das bin
ich. Aber er kommt erst heute nachmittag wieder, und gestern denke ich so:
Verflixt, denke ich, hier steht dieses picobello Wohnmobil, die ganze Woche bei
Mutter im Hof, und ich habe nicht mal die kleine Mikrowelle ausprobiert. Also
habe ich letzte Nacht drin geschlafen, und heute morgen habe ich ihn genauer
unter die Lupe genommen und ‘ne Runde gedreht. Mutter sagt, sie will es nicht
gesehen haben. Will damit absolut nichts zu tun haben. Aber was kann er schon
mit mir anstellen, ehrlich? Was kann er schon mit mir anstellen, mich in den
Knast bringen?«
    »Vielleicht merkt er es gar
nicht«, sagte Delia.
    »Klar merkt er das.

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