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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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ehrlich«, erklärte Vernon
gerade, »er und ich haben uns nie besonders nah gestanden. Er ist drei Jahre
älter als ich, und das läßt er mich immer spüren. Redet immer groß, von wegen
Familienoberhaupt, aber Tatsache ist, daß er von einem Monat zum nächsten
unsere Familie kaum zu sehen kriegt. Ich bin schließlich derjenige, der Mutter
zum Einkaufen fährt. Ich bin derjenige, der sie durch die Gegend kutschiert, zu
ihren Bingo-Abenden und Potluck-Partys und wer weiß, wohin.«
    Wer hatte eigentlich behauptet,
Männer wären nicht mitteilsam? Delia hatte die Erfahrung gemacht, daß sie das
Blaue vom Himmel redeten, Handwerker besonders. Und Sam war keine Ausnahme. Sam
war ausgesprochen mitteilungsfreudig, fand Delia.
    Im Vorbeifahren folgte ihr
Blick einem Trailerpark. Jeder Trailer hatte Sonnensegel und Klinkerstufen und
manchmal eine Veranda. Ganze Gipsmenagerien füllten die kleinen Gärten.
    »Sehen Sie sich die Angeltour
an: raten Sie, wer die Kinder hütet. Ich und Mutter. Natürlich hauptsächlich
Mutter, aber komme ich abends von der Arbeit, ist sie dermaßen kaputt, daß ich
den Rest mache. Glauben Sie bloß nicht, Vincent bedankt sich. Nein, Sir. Und
wenn er Wind kriegt, daß ich mit seinem Wagen gefahren bin, macht er mich einen
Kopf kürzer.«
    In ihrer Strandtasche hatte
Delia fünfhundert Dollar Feriengeld, teils in ihrer Brieftasche und teils in
einem unscheinbaren kleinen Plastiktäschchen. Wenn sie die anderen wirklich
beunruhigen wollte, konnte sie irgendwo übernachten — irgendwo in einem
Motelzimmer, vielleicht sogar in einem malerischen Gasthaus. Allerdings hatte
sie außer ihrem Badeanzug nichts an. Oh, Gott. Ihren Badeanzug mit dem
zerknitterten Rock, ihre Espadrilles und Sams Badejacke. Aber wenn sie die
Jacke richtig zumachte... Wenn man nicht genau hinsah, sah es fast wie ein
Kleid aus. Die Ärmel waren dreiviertellang; der Saum ging ihr über die Knie.
Und die Hotels hier in der Gegend waren sicher spärlich bekleidete Touristen
gewöhnt.
    Jetzt kamen sie in eine Stadt.
Vernon bremste an einer Ampel. Er erzählte von der Frau seines Bruders, Eunice.
»Irgendwie tut sie mir leid, wenn Sie’s wissen wollen«, sagte er. »Man stelle
sich vor, verheiratet mit Vincent!«
    »Wo sind wir?« fragte Delia.
    »Hier? Na, Salisbury.«
    Die Ampel wurde grün, und er
fuhr weiter. Delia überlegte, ob sie aussteigen sollte. Vielleicht an der
nächsten roten Ampel. Doch alle drauffolgenden Ampeln waren grün, und außerdem
waren sie jetzt in einer Wohngegend, gutbürgerlich und gesittet. Und danach
kamen wenig einladende Einkaufszentren und ein unübersichtliches Gewerbegebiet,
und nichts empfand sie als besonders gastlich.
    »Ich bin fest überzeugt, daß er
sie schlägt«, sagte Vernon mittlerweile. »Oder wenigstens bedrängt er sie.
Jedenfalls weiß ich, sie streiten viel, denn wenn sie bei uns sind, sieht sie
ihn die halbe Zeit kaum an.«
    Sie fuhren wieder über Land,
und Delia befürchtete, sie hatte ihre letzte Chance verpaßt. Das Land war so
leer, so flach wie eine Untertasse und menschenleer. Sie faßte den Türgriff und
sah im Fahren einen unbebauten Acker, aus dessen Boden entwurzelte Bäume in
wildem Durcheinander in die Luft staken. Vernon bremste unerwartet, bog scharf
links in eine schmale Teerstraße. »Drei Achtzig«, unterrichtete er sie. Ihn
schien das Scheppern der Kaffeemaschine hinter ihnen nicht zu stören. »Aber
diese Angeltour soll angeblich ihre zweite Hochzeitsreise sein.«
    »Hochzeitsreise!« sagte Delia.
Sie schaute auf eine Weide mit Bergen von Schrottautos. Hinter der nächsten
Kurve stand eine baufällige Scheune, beinah dem Erdboden gleich — der Firstbalken
zerborsten, verzogene graue Planken im hüfthohen Gras versunken. Jede Minute,
so sah sie es, entfernte sie sich weiter von der zivilisierten Welt.
    »So hat Eunice es bei Mutter
wenigstens genannt«, sagte Vernon, »sie hat gemeint, sie und Vincent seien ganz
allein auf dem Boot, nur die zwei zusammen.«
    Delia dachte, daß eine Reise zu
zweit allein auf einem Fischerboot auch die beste Ehe strapazierte, aber sie
sagte lediglich: »Na, viel Glück den beiden.«
    »Das habe ich Mutter auch
gesagt«, erklärte Vernon. Er überholte einen uralten Traktor, dessen Fahrer
anscheinend einen Kittel trug. »›Mutter‹, habe ich gesagt, ›na, dann viel
Glück, sage ich nur, mit ‘nem Mann wie Vincent, dem Widerling.‹«
    »Warum gibt sie ihn nicht auf«,
sagte Delia, die vergessen hatte, daß diese Geschichte

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