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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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sie nichts anging.
»Besonders, wenn er sie schlägt.«
    »Oh, ich bin mir ziemlich
sicher, daß er sie schlägt.«
    Stand da in der Ferne ein
Backsteingebäude? Ja, und eine dunkle Baumgruppe, ein kühler, entspannender
Punkt, auf den sich Delias Augen konzentrierten, und dahinter ein glitzernd
weißer Kirchturm. Sie war beruhigt, hier gab es bestimmt eine
Übernachtungsmöglichkeit. Sie nahm ihre Tasche und strich die Badejacke über
ihren Knien glatt.
    »Einmal ist Eunice allein zu
uns gekommen und hatte eine geschwollene Wange«, sagte Vernon. »Und als Mutter
fragte, woher sie die hat, sagte sie: ›Ich bin vor die Wand gelaufen‹, also,
wenn ich das wäre, hätte ich mir was Besseres einfallen lassen.«
    »Sie sollte ihn verlassen«,
sagte Delia, doch in Gedanken war sie bei der Stadt, die vor ihr lag. Jetzt
hatten sie die Vororte erreicht — kleine weiße Eiäuser, ein Imbißwagen, eine
Gruppe Männer standen vor einer Tankstelle und unterhielten sich. »Eine Ehe zu
kitten, in der Gewalt ausgeübt wird, ist sinnlos«, sagte sie zu Vernon.
    Jetzt hatten sie das
Backsteingebäude erreicht, es war eine Schule, dorothy g. underwood high school. Eine Straße, die direkt
dort vorbeiführte, endete offensichtlich in einem Park; Delia erkannte in einiger
Entfernung Grün und eine Statue. Und nun näherten sie sich der Kirche, zu der
jener Turm gehörte. Vernon sagte: »Also, ich weiß nicht, vielleicht haben Sie
recht. So wie ich Mutter letztens gesagt habe, ich habe gesagt — «
    »Ich glaube, hier steige ich
aus«, sagte Delia.
    »Was?« sagte er. Er
verlangsamte das Tempo.
    »Hier steige ich, glaub’ ich,
aus.«
    Er hielt an und schaute auf die
Kirche. Zwei Damen mit Strohhüten zupften Unkraut im Geranienbeet unter dem
Mitteilungsbrett. »Aber ich dachte, Sie wollen nach Ashford«, sagte er. »Das
ist nicht Ashford.«
    »Macht nichts«, sagte sie und
legte sich die Riemen ihrer Strandtasche über die Schulter. Sie öffnete die
Beifahrertür und sagte: »Danke fürs Mitnehmen.«
    »Hoffentlich habe ich nichts
gesagt, worüber Sie sich aufgeregt haben«, meinte Vernon.
    »Nein, ehrlich nicht! Ich denke
nur, ich — «
    »War es Eunice?«
    »Eunice?«
    »Daß Vincent sie schlägt und
so? Ich rede nicht mehr davon, wenn Sie das aufregt.«
    »Nein, wirklich, unser Gespräch
hat Spaß gemacht«, sagte sie zu ihm. Und dann hüpfte sie zu Boden und warf ihm,
als sie die Tür zuschlug, ein strahlendes Lächeln zu. Sie ging eilig in die
Richtung, aus der sie gekommen waren, und als sie zu der Straße kam, wo sie die
Statue gesehen hatte, bog sie dort ein, ohne auch nur innezuhalten, als hätte
sie ein bestimmtes Ziel vor Augen.
    Hinter sich hörte sie den Wagen
anfahren und dröhnend davonbrausen. Dann war es ganz still, so still, als hätte
jemand etwas Unerhörtes gesagt. Die Stadt schien genauso verblüfft wie Delia
über das, was sie unternommen hatte.
     
     
     
    6 Wie hießen die Bäume, die hier
an der Straße standen? Buchen? Wahrscheinlich; so hoch wie sie aufragten und
oben ein richtiges Gewölbe bildeten. Aber Bäume Bestimmen war noch nie ihre
starke Seite gewesen.
    Den Namen der Stadt
herauszufinden war dagegen einfach. Zuerst kam sie an einem eindrucksvollen
alten Haus vorbei, in dessen Erdgeschoßfenster ein Schild stand: mike potts — »der freundlichste
Versicherungsagent in bay borough«. Dann die Bay-Borough-Sparkasse. Und
sie befand sich auf der Bay Street, wie sie an der ersten Kreuzung feststellte.
Aber Chesapeake Bay konnte es nicht sein. So weit westlich war sie noch nicht.
Außerdem wirkte die Stadt nicht wie eine Stadt am Wasser. Hier roch es nur nach
Asphalt.
    Die Erklärung fand sie auf dem
Platz. Dort, wo unter weiteren Bäumen spärliches Gras sein Terrain gegen
Unkraut verteidigte, verkündete eine Plakette am Fuß der Bronzestatue:
     
    an dieser stelle träumte im august 1863
    george pendle bay, ein soldat der,
    der mit seiner kopmanie hier station machte,
    dass ein mächtiger engel ihm mit frn worten erschien:
    »du sitzest im sesseln des babriers der.«
    er deutete es als anweisung,
    sich von truppe und krieg zu entfernen
    und diese stadt zu gründen.
     
    Delia blinzelte und trat einen
Schritt zurück. Mr. Bay, ein Mann mit rundem Gesicht und prallem Anzug, saß
tatsächlich, aber nicht in einem Friseursessel, sondern in einem gewöhnlichen,
mit gezwirbelten Bronzefransen unten. Er umfaßte die Lehne mit breiten, platten
Fingerspitzen; und anscheinend kaute er Nägel. Delia fand das

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