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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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zum
Anprobieren bringen?«
    »Nein«, sagte Delia, »dies hier
ist genau richtig.« Und sie stopfte Sams Badejacke in ihre Tasche, trat aus der
Kabine und bat: »Würden Sie so freundlich sein und die Schilder abtrennen? Ich
glaube, ich behalte es gleich an.«
    Die Verkäuferin — eine
künstlich gebräunte Blondine in einem Kleid mit geometrischem
Schwarz-Weiß-Muster — warf einen zweifelnden Blick auf den Saum. »Wir andern
auch«, sagte sie. »Möchten Sie es ein bißchen kürzer haben?«
    »Nein, danke«, erklärte Delia
mit steifer Sekretärinnenstimme.
    Die Verkäuferin reagierte
nahtlos. »Also, es steht Ihnen«, sagte sie.
    Delia hob den linken Arm, und die
Frau griff eine Schere und knipste die oben am Reißverschluß baumelnden
Schilder ab.
    Neunundsiebzig Dollar
fünfundneunzig kostete das Kleid, ohne Mehrwertsteuer. Aber Delia bezahlte,
ohne mit der Wimper zu zucken, und stolzierte aus dem Laden. Bedauerlicherweise
schluckte tiefbeiger Teppichboden ihre Schritte. Sonst hätten ihre Absätze
geklappert, wie bei echten Chefsekretärinnen.
    Ihr schwungvoller Abgang trug
sie ein Stück weiter, zurück am Billigladen vorbei, über eine Kreuzung, bis zu
einer Reihe kleinerer Geschäfte — Copy-Shop, Reisebüro, Blumenladen. Sie fand,
ihr Gang war anders; sie hüpfte nicht mehr wie sonst, sondern ging in ihrem
engen Rock ernst und gesittet. Hier kommt die Sekretärin, Miss X, sie hat es
eilig, nach der Mittagspause wieder ins Büro zu kommen. Gleich tippt sie die
Briefe, die ihr der Direktor diktiert hat.
    Nur zum Spiel suchte sie sich
ihr Büro aus, so wie sie sich sonst »ihr« Haus aussuchte, wenn sie durch eine
feine Gegend fuhr, nichols
& trimble, Zahnärzte. Da mußte sie womöglich Zahnstein und
Schlimmeres entfernen, gute sicht — ihr
Optiker. Hatten Optiker Sekretärinnen? ezekiel
pomfret, Rechtsanwalt. Wahrscheinlich außer Betrieb, nach der
heruntergelassenen Jalousie zu urteilen. Und nirgendwo ein Schild Aushilfe gesucht. Nicht, daß es
praktisch irgendeine Rolle spielte.
    An der nächsten Kreuzung bog
sie links ein. Sie ging an einer Zoohandlung und einem
Möchtegern-Antiquitätenladen vorbei (die Schaufenster gefüllt mit
Dreißigerjahre-Keramik und wasserblauen Plastikaschenbechern in Bumerang-Form).
Eine Apotheke. Zwei Fachwerkhäuser. Ein Tante-Emma-Laden. Dann noch ein
Fachwerkhaus, das so dicht an der Straße lag, daß der Verandaboden in den
Gehweg überging. In dem ungeputzten Fenster vorn stand, umrahmt von schlaffen
Tüllgardinen, ein Pappschild Zimmer
frei.
    Zimmer frei.
    Das war sicher eine ›Pension‹.
Sie sah in Gedanken die Sekretärin die weiße Bettdecke ihres altjüngferlichen
Betts glattstreichen, andere Mieter in Filzpantoffeln den Flur
entlangschlurfen, die steinalte Zimmerwirtin, ganz in Schwarz, den
Abendbrottisch decken — dann die Gedecke fürs morgige Frühstück. In der kurzen
Zeit, die Delia brauchte, die Veranda zu überqueren und an der Haustür zu
läuten, war ihr die Vorstellung so zur Wirklichkeit geworden, daß sie es fast
überflüssig fand, sich der Frau vorzustellen, die die Tür öffnete.
    »Hallo«, sagte die Frau. »Was
gibt’s?«
    So hatte sich Delia die
Zimmerwirtin nicht vorgestellt. Sie war rundlich, um die Vierzig und stark
geschminkt; ihr üppig goldengelocktes Haar war wie eine Hochzeitstorte
kunstvoll getürmt, und dazu trug sie einen grell-pinkfarbenen Overall. Aber
jedenfalls schien sie hier zuständig zu sein, also fragte Delia: »Ich komme
wegen des Zimmers.«
    »Zimmer?«
    »Das freie Zimmer«, erinnerte
Delia sie.
    »Oh, das Zimmer«, sagte die
Frau. »Also, eigentlich vermiete ich lieber an Männer.«
    War das heutzutage noch
erlaubt? Delia war sprachlos.
    »Bis vergangenen April«,
erklärte die Frau und öffnete die Tür mit dem ausgebeulten Fliegengitter,
»hatte ich immer nur Männer. Es hat sich eben so ergeben. Ich vermiete nur zwei
Zimmer, wissen Sie, deshalb hatte ich zwei Männer, Mr. Lamb, der während der
Woche als Vertreter reist, und Larry Watts, der sich von seiner Frau getrennt
hatte. Dann ist Larry zu seiner Frau zurück, im April, und ich habe sein Zimmer
einer Frau gegeben. Und das bereue ich bis heute!«
    Sie drehte sich um, ließ Delia
in der Tür stehen und stieg die Treppe hinauf. Delia folgte unsicher. Das Haus
kam ihr vor, als sei es seit langem sich selbst überlassen. Ovale helle
Tapetenflecken zeigten, wo einst Bilder gehangen hatten, und auf den Dielen des
Flurs oben zeichnete sich geisterhaft ein früherer

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