Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
Vom Netzwerk:
zumindest
dachte sie nichts von Bedeutung. Oft genug schaute sie einfach nur in die Luft,
wie sie es schon getan hatte, als sie klein war. Damals konnte sie stundenlang
die vielfarbigen Fleckchen beobachten, die durch den Raum schwärmten. Dann
klärte Linda sie auf, es seien Staubpartikel. Das minderte ihr Vergnügen. Wer
macht sich schon etwas aus Staub? Jetzt aber fand sie, Linda hatte unrecht
gehabt. Sie beobachtete die Luft, unendlich viel Luft, die sich endlos neu
ordnete, und je länger sie zuschaute, desto tröstlicher war ihr, heilsamer,
friedlicher.
    Sie lernte den Wert der
Langeweile. Sie leerte ihren Kopf. Sie hatte immer gewußt, daß ihr Körper nur
die Hülle war, in der sie lebte, aber jetzt begriff sie auch, daß ihr Kopf nur
eine Hülle war — wer war »sie« also? Sie leerte ihren Kopf, um zu sehen, was
übrigblieb. Vielleicht nichts.
    Oft begann sie ihre allnächtliche
Lektüre erst um neun oder halb zehn, es bedeutete, daß sie die Romane nicht
mehr in einem Stück durchlesen konnte; also wechselte sie zu Kurzgeschichten.
Sie las eine Geschichte, schaute eine Weile in die Luft, las dann eine andere.
Sie legte den Leihzettel aus der Bücherei zwischen die Seiten und horchte auf
die Geräusche draußen — das Vorbeirauschen der Wagen, das Zirpen der Insekten,
Kinderstimmen im Haus gegenüber. An heißen Tagen schliefen die älteren Kinder
im ersten Stock auf dem Balkon, und dann unterhielten sie sich, bis die Eltern
sich einmischten. »Muß ich nach oben kommen?« war die schrecklichste
Drohung des Vaters. Danach schwiegen sie, aber nur für eine Minute.
    Delia überlegte, ob Sam wußte,
daß Carroll Mitte Juli zwei Wochen Tennisunterricht hatte. Carroll selbst
vergaß solche Termine gern. Und hatten sie wohl daran gedacht, daß diesen Monat
der Zahnarzt fällig war? Eliza bestimmt. Ohne Eliza hätte Delia ihre Familie
nie so leicht verlassen können. Sie war sich unsicher, ob dies ein echter Segen
war. Tatsache war, Delia war entbehrlich. Sie war ein Extra. Sie hatte ihr
gesamtes Eheleben wie ein kleines Mädchen verbracht, das mit der Puppenstube
spielte, und immer hatte im Hintergrund ein Erwachsener gestanden, der
eingreifen konnte — ihre Schwester, ihr Mann, ihr Vater.
    Eigentlich hätte sie es
tröstlich finden sollen. (Sie hatte solche Angst vorm Sterben, als ihre Kinder
klein waren.) Doch statt dessen war sie eifersüchtig gewesen. Wieso war es
immer Sam, zum Beispiel, an den alle sich in Krisenzeiten wandten? Immer galt
er als der Vernünftige, der Zuverlässige; sie war reine Dekoration. Aber wie
war es dazu gekommen? Womit war sie beschäftigt gewesen, während sich dieser
Zustand entwickelte?
    Sie las noch eine Geschichte
mit mehreren längeren Naturbeschreibungen. Sie mochte die Natur so gern wie
einen nahestehenden Menschen, aber manchmal ging es doch zu weit, fand sie.
    Und wer wachte jetzt über Sams
Gesundheit? Er trieb in letzter Zeit viel zuviel Sport. Aber, es gebt mich
nichts an, erinnerte Delia sich. Sein Brief hatte sie befreit. Keine
Veranlassung mehr, auf seinen Cholesterinspiegel zu achten; sinnlos,
festzustellen, daß es im Lebensmittelladen fettarme Mayonnaise gab.
    Sie erinnerte sich, was in dem
Brief gestanden hatte: Du mußt Dir doch bewußt gewesen sein und obendrein
ist mir unklar. Blutleere Sätze, gefühllose Sätze. Wahrscheinlich wußte die
ganze Nachbarschaft, daß er sie nicht aus Liebe geheiratet hatte.
    Wieder sah sie die drei Töchter
auf dem Sofa aufgereiht — eigentlich Sams Bild, aber sie hatte es übernommen.
Sie sah ihren Vater im Sessel und Sam im Schaukelstuhl. Beide unterhielten sich
über ein neues Arthrosemittel, während Delia an ihrem Sherry nippte und Sams
Hände beobachtete, wie geschickt sie aussahen, professionell und wissend.
Vielleicht war es der ungewohnte Sherry gewesen, daß ihr so schwindlig war.
    Einige einzelne Augenblicke
können ein ganzes Leben zusammenfassen. Nur fünf oder sechs Bilder, die wieder
und wieder vorbeiflimmern, wie Tarotkarten, die immer neu gemischt, neu
verteilt werden. Ein Sonnenfleck auf einem Platz am Fenster, wo jemand Großes
Delias Hände mit einem Waschlappen abrubbelte. Ein Buchstabierwettbewerb in der
Grundschule, wo Eliza unangekündigt auftauchte und Delia sie einen Augenblick
als Fremde wahrnahm. Der Glanz auf Sams hellem Haar gegen das sirupbraune Holz
des Schaukelstuhls. Ihr Vater, von zwei Kissen gestützt, der versuchte, noch
etwas zu sagen. Und Delia, die am Atlantischen Ozean gen Süden

Weitere Kostenlose Bücher