Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
Vom Netzwerk:
ging.
    Auf diesem letzten Bild trug
sie ihr graues Sekretärinnenkleid. (Nicht alle diese Erinnerungen sind völlig
korrekt.) Sie trug die schwarzen Lederschuhe, die sie bei Bassett und Co.
gekauft hatte. Ihr Aufzug war falsch, aber der Eindruck stimmte — entschieden,
entschlossen. Das war es, was ihr Halt gab.
    »Ich brauche nur ›Sommer‹ zu
hören«, verkündete eins der heiratsfähigen Mädchen (natürlich Eliza), »dann
riecht es wie geschmolzen, irgendwie gelb und heiß und geschmolzen.« Und Linda
flötete: »Ja, so ist sie eben! Eliza riecht bis hierhin, wenn Muskatnußtag in
der Gewürzfabrik ist! Sie riecht auch Wut.« Und Delia lächelte in ihr
Sherryglas. »Aha«, sagte Sam nachdenklich. Erriet er, was dahintersteckte? Daß
Eliza versuchte, sich interessant zu machen, daß Linda versuchte, Eliza
Verschrobenheit zu unterstellen; daß Delia hoffte, das Grübchen in ihrer linken
Wange käme gut zur Geltung?
    Der Waschlappen, mit dem ihre
Hände abgerubbelt wurden, war rauh und warm wie eine Katzenzunge gewesen. Die
unbeholfene, unglücklich dreinschauende junge Frau, die an Miss Sutherlands
Pult trat, verwandelte sich in Delias Schwester. »Ich wünsche...« flüsterte ihr
Vater, und seine aufgesprungenen Lippen schienen beim Sprechen eher zu reißen,
als sich zu teilen; dann drehte er sein Gesicht von ihr fort. Am Abend nach
seinem Tod nahm sie vorm Zubettgehen eine Schlaftablette. Sie reagierte so
stark auf Medikamente, eigentlich war sie schon bei Aspirin vorsichtig, dennoch
nahm sie dankbar, was Sam ihr gab, und schlief die ganze Nacht. Aber es war
eher ein Sich-durch-die-Nacht-Graben, mit stumpfen, untauglichen Geräten einen
Tunnel bauen, und am Morgen erwachte sie verwirrt und müde, überzeugt, etwas
verpaßt zu haben. Nun dachte sie, sie hatte ihre Trauer verpaßt. Wieso diese
Hast zu vergessen? fragte sie sich. Wieso diese Eile, an der Trauer vorbei
gleich ins Nächste zu tauchen?
    Sie überlegte, was ihr Vater
wohl gewünscht hatte. Damals hatte sie es nicht herausfinden können, und
vielleicht hatte er geglaubt, es sei ihr egal. Tränen kamen, rollten ihr über
die Wangen. Sie bemühte sich nicht, sie aufzuhalten.
    Starben deine altgewordenen
Eltern nicht häufig genau dann, wenn die übrigen (Ehemann, heranwachsende
Kinder) ganz offensichtlich nicht mehr jene anfängliche Begeisterung über dein
Dasein zeigten? Eigentlich freuten sich nur Eltern immer, wenn du kamst, hörten
dir ein Leben lang liebevoll zu. Eine der vielen Ironien des Lebens.
    Sie angelte nach ihrem
Toilettpapiervorrat und putzte sich die Nase. Sie hatte das Gefühl, als löste
sich etwas in ihrem Innern, und hoffentlich weinte sie noch die ganze Nacht.
    Im Haus gegenüber rief ein
Kind: »Mama, Jerry tritt mich.« Doch die Stimme klang fern, wie im Traum, und
die Antwort war sanft. »Aber Jerry...« Allmählich, so schien es, schliefen die
Kinder ein. Die noch wach waren, sagten nur noch dann und wann ein Wort,
sprachen schleppender, bis das Haus schließlich still war und niemand mehr
redete.
     
    * * *
     
    Der Unabhängigkeitstag war in
Bay Borough beinah unbemerkt vorbeigegangen — ohne Parade, ohne Feuerwerk, nur
ein paar rot-weiß-blaue Dekorationen in den Schaufenstern. Am Bay Day jedoch
sah es anders aus. Bay Day war der Feiertag zu Ehren des berühmten Traums, den
George Pendle Bay geträumt hatte. Er wurde am ersten Samstag im August gefeiert
und wurde mit einem Baseballspiel und einem Picknick auf dem Platz begangen.
Delia wußte das alles, weil Mr. Pomfret der Vorsitzende des Festausschusses
war. Er hatte ihr einen Brief diktiert, in dem er vorschlug, das Baseballspiel
durch etwas nicht ganz so Raumgreifendes zu ersetzen — Hufeisenwerfen, zum Beispiel.
Der Platz, so argumentierte er, sei zu klein und dort stünden zu viele Bäume.
Doch Bürgermeister Frick, Sohn und Enkel früherer Bürgermeister und demnach
Alleinherrscher, erwiderte, das Baseballspiel sei eine »altehrwürdige
Tradition« und müsse weitergespielt werden.
    »Tradition!« fluchte Mr.
Pomfret. »Bill Frick hat von Tradition keinen Schimmer, und wenn sie ihn eigens
in den Hintern beißen würde. Anfangs hat es immer Hufeisenwerfen gegeben. Dann kam
Ab Bennet, der in der Unterliga rausgeflogen war, mit eingezogenem Schwanz
wieder an, und Bill Frick Senior inszenierte ihm zum Trost ein Baseballspiel.
Aber Ab spielt nicht mal mehr mit! Er ist zu alt! Er macht den Limostand.«
    Delia war Bay Day egal. Sie
hatte vor, morgens ihre Einkäufe zu

Weitere Kostenlose Bücher