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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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erledigen und einen großen Bogen um den
Platz zu machen. Aber einerseits stellte sie fest, daß alle Läden geschlossen
waren, und andererseits lockte sie das eigenartige Wetter (Nebel, dicht und
weich, der beinah wie Brei im Mund zerging); sie wollte spazierengehen, und als
sie auf die Menge traf, fühlte sie sich, eingehüllt in Dunst, sicher genug,
einzutauchen.
    Die vier den Platz umgebenden
Straßen waren abgesperrt, und überall lagen Decken fürs Picknick. Essenstände säumten
die Gehwege, und fliegende Händler verkauften Fähnchen und Ballons. Doch selbst
das konnte Delia nur mit Mühe erkennen, so neblig war es. Leute nahmen erst im
Näherkommen Gestalt an, schienen erst im allerletzten Augenblick feste Konturen
zu gewinnen. Was besonders bei den Skateboardfahrern irritierte. Begeistert von
den verkehrsfreien Straßen, flitzten sie tollkühn durch die Menge, tauchten aus
dem Nichts und lösten sich in Luft auf. Alle Geräusche waren gedämpft, wie in
Watte gepackt, und zugleich unheimlich deutlich. Selbst Gerüche traten
deutlicher hervor: zwei alte Damen standen in einer Wolke von Bergamotteduft,
während sie aus einer Thermoskanne Tee ausschenkten.
    »Delia!« rief jemand.
    Delia drehte sich um und
erkannte Belle Flint, die einen gestreiften Campingstuhl aufklappte. Sie trug
einen leuchtendrosa Overall und eine Menge Armreifen, die klimperten, als sie
sich setzte. Delia war sich bis dahin nie sicher gewesen, ob Belle sich an
ihren Namen erinnerte; deshalb war sie überrascht. »Oh, hallo, Belle«, sagte
sie, und Belle antwortete: »Kennst du Vanessa schon?«
    Die Frau, auf die sie deutete,
war die junge Mutter, die immer mittags zum Platz kam. Sie saß gleich hinter
Belle auf einer Bettdecke in der gleichen Farbe wie der Nebel, ihren kleinen
Jungen zwischen die Knie geklemmt. »Hier, komm auf meine Decke«, sagte sie zu
Delia.
    »Oh, danke, aber — « sagte
Delia. Und dann: »Ja, warum nicht«, und ging und setzte sich neben sie.
    »Nimm dir ‘ne Ladung von dem
Picknickkram«, forderte Belle Delia auf. »Wir essen um die Wette; eigentlich
müßte es Preise geben. Was hast du mitgebracht?«
    »Nichts«, sagte Delia.
    »Die Frau gefällt mir«, sagte
Belle, und dann neigte sie sich herüber und flüsterte: »Selma Frick hat Bambuskörbe
vollgeschichtet mit vermischten Horsd’œuvres; Polly Pomfret hat Artischocken
auf Currykrebs mitgebracht.
    »Ich habe eher Teenie-Gelüste«,
sagte Vanessa und reichte ihr einen Tierfigurenkeks. »Lieber hole ich mir was
von der Bude, wenn ich Hunger kriege.«
    Sie erinnerte Delia an jene
Filmstars aus den vierziger Jahren, die netten Mädchen von nebenan, schlank,
hübsch und dunkelhaarig, mit weißer Bluse und weiten roten Shorts, das Haar
schulterlang und leuchtendroter Lippenstift. Ihr Sohn war zu feingemacht, fand
Delia — typisch für erste Kinder. Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, so
in Cordhose und langärmeligem Hemd, und mit Recht; Delia fühlte durch die
Bettdecke, wie heiß der Boden war.
    »Wie alt ist dein kleiner
Junge?« fragte sie Vanessa.
    »Letzten Mittwoch achtzehn
Monate.«
    Achtzehn Monate! hätte Delia
wiederholen können. Daran kann ich mich gut erinnern. Als Ramsay achtzehn
Monate war, hat er auch... und Susie, Susie hat damals...
    Eine solche Versuchung, ihr
gemeinsames Wissen unter Beweis zu stellen — Wehen und Milchzähne — die Zeit,
als sie noch auf den Tag genau das Alter ihrer Kinder wußte. Doch sie
widerstand. Sie betrachtete lediglich lächelnd das blondschimmernde Kinderhaar
und sagte: »Die Haarfarbe hat er sicher vom Vater.«
    »Vermutlich«, sagte Vanessa
unbekümmert.
    »Vanessa ist alleinerziehend«,
erklärte Belle.
    »Oh!«
    »Keine Ahnung, wer Greggies
Vater ist«, sagte Vanessa und wischte ihrem Sohn mit einem Papiertuch den Mund
ab. »Oder besser, ich habe zwar eine Ahnung, aber genau weiß ich es nicht.«
    »Oh, ach so!« sagte Delia und
wandte sich eilig dem Baseballspiel zu.
    Nicht daß es da viel zu sehen
gab, bei dem Nebel. Offensichtlich lag die Home-Base in der entgegengesetzten
Ecke. Jedenfalls hörte sie dort einen Aufschlag, Plop! Aber sie konnte nur die
zweite Base ausmachen, markiert durch eine Parkbank. Während sie zuschaute,
lief ein Läufer zur Bank, und der Spieler, der schon dort saß, stand auf, fing
aus dem Nichts einen Ball und warf ihn in den Nebel zurück. Dann setzte er sich
wieder. Der Läufer neigte sich vornüber, Ellenbogen auf die Knie gestützt, und
peilte angestrengt in Richtung

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