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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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vor Ihrem Weggang klarzustellen.«
    »Tut mir leid«, sagte sie.
»Nächstesmal.«
    Nächstesmal.
    Sie fragte sich, wann, um
Himmels willen, das denn sein sollte.
     
    * * *
     
    Samstag, Sonntag. Kunstvolles
Anfüllen leerer, weißer Stunden, Frohsein über jede noch so unbedeutende Aufgabe.
Samstagabend aß sie zu Hause, kleine Behälter aus dem chinesischen Takeaway,
und bis spät in die Nacht las sie Daisy Miller. Ihr Sonntagsfrühstück
bestand aus einem Rosinenbrötchen und Tee im Bett, doch zum Mittagessen ging
sie aus. Sie aß im Bay-Arms-Restaurant, einer stickigen Institution mit
schweren Gardinen und Teppichboden, wo alle anderen Tische mit Familien besetzt
waren, die aus der Kirche kamen. Am liebsten hätte sie ihr Essen so schnell wie
möglich hinter sich gebracht, doch dann bezwang sie sich und bestellte Suppe,
ein Hauptgericht und Nachtisch, kämpfte sich maßvoll und gelassen durch alle
Gänge, den Blick fest auf einen Punkt mittlerer Entfernung gerichtet.
    Einmal, in einer besonders
feministischen Phase, hatte Susie erklärt, jede Frau müsse eigentlich lernen,
in einem ordentlichen Restaurant zu essen, und zwar allein und ohne Buch. Delia
wünschte, Susie sähe sie jetzt.
    Vielleicht würde Sam die Kinder
mitbringen, wenn er kam. Vielleicht spazierten sie direkt ins
Bay-Arms-Restaurant; unmöglich war es nicht, daß sie sie hier ausfindig
machten. Sie trug ihr neues marineblaues Kleid aus dem Secondhandladen. Es
stand ihr, fand sie. Sie bestellte noch eine Tasse Kaffee und saß eine Weile
da.
    Jetzt eine Zigarette, mußte sie
mit einemmal denken, obwohl sie seit der zehnten Klasse nicht mehr geraucht
hatte.
    Als sie aus dem Restaurant kam,
machte sie sich auf den Weg zur Bücherei; sie wollte sich eine Abendlektüre
aussuchen. Doch die Tür zur Bücherei war verschlossen und die Jalousien dicht.
Sie hätte sich denken können, daß sonntags geschlossen war. Jetzt mußte sie
sich ein Buch kaufen — dafür Geld ausgeben.
    Im Drugstore auf der George
Street gab es einen Ständer mit Taschenbüchern — hauptsächlich Kriminalromane,
ein paar Liebesromane. Sie wählte einen Liebesroman Der Mond über Wyndham
Moor. Auf dem Titelblatt sank eine Frau in langem Cape schmachtend dahin,
mühsam gehalten von einem bärtigen Herrn, der mit der Linken ihre Taille
umfaßte, mit seiner Rechten aber ein Schwert schwang. Delia versenkte das Buch,
nachdem sie bezahlt hatte, in ihrer Handtasche. Dann ging sie weiter zu Belle,
schritt schnell und entschlossen aus; jeder, der sie sah, sollte denken, Diese
Frau, steht eindeutig fest auf eigenen Füßen.
    Doch leider sah sie niemand.
    Sie erinnerte sich, daß sie
sich als Kind gern im Vorgarten postierte und auf Besuch wartete. Sie erinnerte
sich, daß sie einmal, als ihr Großonkel Roscoe kommen sollte, ihre Puppenwiege
ins Gras gestellt und sich selbst artig daneben gesetzt hatte, bis Onkel Roscoe
aus dem Auto stieg. »Na, sieh mal an!« hatte er gerufen. »Die kleine Lady
Delia.« Er hatte nach Hustenbonbons gerochen, nach der bitteren Sorte. Bisher
hatte sie geglaubt, sie könne sich von Onkel Roscoe kein Bild mehr machen,
deshalb wunderte sie sich jetzt, daß er so plötzlich aus der Versenkung
auftauchte. Er wechselte seinen kleinen Narbenlederkoffer in die andere Hand,
damit er sie an der Schulter fassen und mit ihr ins Haus gehen konnte. Aber zu
welchem Anlaß? Wieso war er in seinem verschossenen schwarzen Anzug zu Besuch
gekommen? Eigentlich wollte sie es gar nicht so genau wissen.
    »Ich habe meine Puppe in den
Schlaf gesungen«, hatte sie ihm vertraulich zugeflüstert.
    Sie war immer so ein falsches
Kind gewesen, immer bereit, sich den Vorstellungen der Erwachsenen anzupassen.
     
    * * *
     
    Der Mond über Wyndham Moor war eine Enttäuschung. Das
Buch war einfach nicht glaubwürdig. Delia legte es immer wieder beiseite und
starrte ausdruckslos in die düsteren, fernen Zimmerecken. Sie blätterte,
wieviel sie noch zu lesen hatte. Sie neigte den Kopf, horchte auf Mr. Lambs
Radio. Er hatte es das ganze Wochenende eingeschaltet, aber nie so laut, daß
sie verstand, was der Ansager von sich gab. Draußen auf das Verandadach fielen
Regentropfen, einer nach dem anderen. Sie vermißte den Lärm der Familie
gegenüber. Sie hatten wohl wegen des Wetters die Fenster geschlossen.
    Würde er denn gar nicht kommen?
     
    * * *
     
    Am Montagmorgen gab Mr. Pomfret
ihr indirekt zu verstehen, daß er die Wahrheit erfahren hatte. »Ich sehe, Sie
tragen ein neues Kleid, Mrs.

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