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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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Grinstead«, sagte er und sah sie bedeutungsvoll
an. Doch sie tat so, als verstünde sie nicht, und bis zum Mittag war er zum
»Miss« zurückgekehrt. Nicht daß es ihr viel ausgemacht hätte. Sie fühlte sich
heute eigenartig glanzlos. Der Regen machte das nicht besser. Sie hatte sich im
Drugstore einen Schirm kaufen müssen, und während der Mittagspause ging sie ins
Kaufhaus und erstand eine billige graue Synthetikstrickjacke. Miss Grinsteads
Ansprüche nahmen ab, schien es. Sie schob die Hände durch die zusammenklebenden
Ärmelschläuche.
    Weil es regnete, konnte sie
nicht wie sonst auf ihrer Parkbank essen, und den gesellschaftlichen Ansprüchen
Rick-Racks oder des Bay-Arms-Restaurants fühlte sie sich nicht gewachsen; also
nahm sie ihren Joghurt mit aufs Zimmer. Sie öffnete die Haustür, machte einen
Schritt über die Post und ging in Richtung Treppe. Dann hielt sie inne, drehte
sich um und sah sich einen der Umschläge am Boden genauer an.
    Ein cremefarbener Umschlag — oder
eigentlich puddingfarben. Wie gut sie diese Farbe kannte! Den Namen kannte,
der, braun geprägt, in der oberen linken Ecke stand: dr. samuel grinstead.
    Hatte er beschlossen, ihr
einfach einen Brief zu schreiben?
    Sie bückte sich und hob ihn
auf. Mrs. Delia Grinstead lautete die Adresse, George Street, Haus m/ niedriger
Veranda neben dem Lebensmittelladen, Bay Borough, Maryland.
    Sie nahm ihn mit in ihr Zimmer,
dann öffnete sie ihn. Delia, schrieb er. Kein Liebe. Delia, wenn ich Eliza
richtig verstanden habe...
    Er hatte die Schreibmaschine
aus der Praxis benutzt, die mit dem wackeligen e, und hatte nicht einmal die
Schreibbreite geändert, die sie für die Rechnungen eingestellt hatte. Der
Brieftext war gerade zehn Zentimeter breit.
     
    Delia, wenn ich Eliza recht
verstehe, brauchst Du Zeit für Dich selbst auf Grund verschiedener Belastungen,
den Tod Deines Vaters eingeschlossen.
    Natürlich wäre mir lieber
gewesen, Du hättest uns vorgewarnt. Es muß Dir doch bewußt gewesen sein, welche
Angst und Sorge Du verursachst, wenn Du am Strand einfach auf und davon gehst. Hast
Du eine Ahnung, wie es ist
    Obendrein ist mir unklar, was
Du unter »Belastungen« verstehst. Natürlich weiß ich, wie nah Du Deinem Vater
standest. Sein Tod ist aber schon viereinhalb Monate her. Ehrlich gesagt
finde ich Vielleicht bin ich eine der Belastungen. Wenn das so ist, bedaure
ich das, aber ich habe immer versucht ein halbwegs brauchbarer Ehem als
junger Mann, geschworen, ich würde meiner Frau und meinen Kindern ein wahrer
Fels an Zuverlässigkeit sein und meiner Ansicht nach habe ich diesen Schwur
erfüllt und ich verstehe nicht was aber wenn Du mir etwas vorzuwerfen
hast, bin ich bereit, es mir anzuhören.
    Inzwischen versichere ich Dir,
daß ich nicht in Deine Privatsphäre eindringen werde.
    xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx
    Sam
     
    Er hatte die ersten vier
Berichtigungen nur durchgestrichen — Delia konnte sie leicht entziffern — ,
doch die fünfte war so gründlich durchge-x-t, daß sie die nicht einmal
enträtseln konnte, wenn sie den Brief gegen das Licht hielt.
    Wahrscheinlich war es so am
besten. Sie war sicher noch beschränkter als die übrigen Bemerkungen, und, mein
Gott, die waren beschränkt genug.
    Nicht in ihre Privatsphäre
eindringen! Er rührte keinen Finger, gab sie einfach auf, als sei sie ein
Haustier, das weggelaufen war, oder ein verlorener Penny.
    Sie hätte es wissen können,
überlegte sie. Es bewies nur, wie recht sie hatte zu gehen.
    Ihre Zähne schlugen
aufeinander, dagegen half auch die neue Wolljacke nicht. Anstatt zu Mittag zu
essen, zog sie die Schuhe aus und kroch ins Bett. Sie lag zitternd unter der
einen Decke, den Mund fest verschlossen gegen die Kälte, zusammengekauert, sich
selbst fest in den Arm nehmend.
     
     
     
    9 Kein Wunder, daß sie sich Bay
Borough nicht im Winter vorstellen konnte! Unbewußt, war ihr nun klar, hatte
sie damit gerechnet, Sam käme lange vorher und holte sie. Sie glich darin einem
der vielen weggelaufenen Kinder, die eigentlich, egal wie weit sie gereist
waren, nie wirklich von zu Hause fort wollten.
    Also gut. Da war sie nun. Und
ihr ganzes restliches Leben dehnte sich weit und leer vor ihr aus.
     
    * * *
     
    Sie gewöhnte sich an, abends auf
dem Bett zu sitzen und in den Raum zu starren. Es ›Denken‹ zu nennen wäre
übertrieben gewesen. Ihre Gedanken waren jedenfalls nicht bewußt,

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