Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
Vom Netzwerk:
nickte. »Zeke Pomfret?
Kein Problem«, sagte sie.
    So reichte Delia den ersten
echten Gehaltsscheck ihres Lebens ein und erhielt ein paar knisternde Scheine
dafür. Sie war überrascht, wieviel die Steuern und die Nebenkosten von ihrem
Lohn verschlangen.
    Weber Street, East Street. Quer
über den Platz. Sie trug den Kopf hoch und setzte ihre Füße exakt, einen vor
den anderen. Sie fühlte sich wie eine Heldin im Theater oder im Film. Und ihr
imaginäres Publikum war natürlich Sam.
    Nicht, daß sie sich auf seinen
Besuch freute, gewiß nicht. Ihr graute davor, Erklärungen abzugeben; sie wußte,
wie schwach und widersprüchlich alle ihre Gründe für ihn klangen. Dennoch, seit
gestern nachmittag schon, stellte ein Teil von ihr Berechnungen an. Nach
Baltimore sind es schätzungsweise zwei Stunden. Wenn Eliza, na, gegen halb fünf
zu Hause war, kann Sam um halb sieben hier sein. Sieben vielleicht. Oder
angenommen, er macht erst die Sprechstunde zu Ende, angenommen, er muß erst
tanken... Und dann, später am Abend: Er wartet sicher bis zum
Wochenende. Das ist auch viel vernünftiger.
    Stell dir vor, er sähe sie in
diesem Augenblick, auf dem Weg zur Bücherei, um sich für Samstag ein Buch zu
holen. Oder auf dem Heimweg, während sie die Becher draußen vor Katys
Küchenladen begutachtete. Oder während sie aus dem Secondhand kam, mit dem
marineblauen Strickkleid in der Tüte. Stell dir vor, er wartete auf der Veranda
ihrer Vermieterin und beobachtete, wie sie in die George Street bog. Er sähe
sie um die Ecke segeln, seriös in Grau, wie selbstverständlich in dieser Stadt,
in die er noch nie einen Fuß gesetzt hatte. Er dächte: Kann es sein, ist das
Delia?
    Oder stell dir vor, sie steigt
die Treppe hinauf, und er wartet vor ihrer Zimmertür. »Ach, Sam«, würde sie
gutgelaunt sagen und ihre Schlüssel aus der Handtasche ziehen — einen
richtigen, ernstzunehmenden Schlüsselbund mit Zimmerschlüssel und Büroschlüssel
an einem Chromring von Mr. Pomfret. Sie würde die Tür öffnen und ihn mit einem
Kopfnicken hineinbitten. Oder er war schon im Zimmer, hatte Belle überredet,
ihn hineinzulassen. Er stand an einem der Fenster. Er drehte sich um, und sie
trat bepackt ein — ihr Büchereibuch, ihren Teebecher und das neue Kleid — und:
»Komm, kann ich dir etwas abnehmen«, würde er sagen, und sie antwortete:
»Danke, es geht schon.«
    Aber er war ja nicht da, und sie
stellte ihre Sachen in aller Stille aufs Bett.
     
    * * *
     
    Sie ging nach unten, ihre Miete
zahlen. Belle war zu Hause, das wußte sie. Aus dem Zimmer hinter der
selleriegelben Tür im Flur drangen Geräusche. Sie klopfte, und Belle rief:
»Herein!«, dabei quietschte und surrte es. Es war ein Heimtrainer, stellte
Delia beim Eintreten fest. Belle trat wie wild in die Pedale, ihr Gesicht
hochrot und erhitzt; sie trug einen rosa Trainingsanzug mit Satinschleifchen.
»Wow!« sagte sie, als sie Delia sah. Ihr Wohnzimmer schien, wie das restliche
Haus, mit dem Sperrmüll früherer Bewohner möbliert. Ein schäbiges Plüschsofa
stand vor dem Fernseher; die Platte des niedrigen Tischs zeigte ein Muster aus
Wasserkränzen.
    »Ich wollte nur meine Miete
zahlen«, sagte Delia.
    »Oh, danke«, sagte Belle und,
ohne ihr Gestrampel zu verlangsamen, stopfte sie die Scheine in ihren Ärmel.
»Alles in Ordnung?«
    »Ja, fein.«
    »Prima«, sagte Belle und beugte
sich unermüdlich über den Lenker, als Delia wieder die Tür schloß.
    Delia plante, als nächstes fürs
Mittagessen zum Lebensmittelladen zu gehen, doch als sie das Haus verlassen
wollte, stand ein junger Mann in Uniform auf der Veranda. Zuerst dachte sie, er
sei Soldat; die Uniform war khakibraun, und er hatte einen Bürstenhaarschnitt.
»Miss Grinstead«, sagte er gedehnt.
    »Ja.«
    »Ich bin Chuck Akers,
Vondaplizei.«
    Sie brauchte einen Augenblick,
um zu verstehen.
    »Kann ich Sie kurz sprechen?«
fragte er.
    »Klar«, sagte sie. Sie machte
kehrt und führte ihn hinein, dann fiel ihr ein, daß sie gar nicht wußte, wohin
mit ihm. Ihr Schlafzimmer kam nicht in Frage, und Belles Wohnzimmer konnte sie
auch schlecht benutzen. Also drehte sie sich um und fragte: »Was kann ich für
Sie tun?«, und so verhandelten sie schließlich mitten auf der Veranda.
    »Sie sind doch Miss Cordelia F.
Grinstead«, fragte er.
    »Ja.«
    »Ich gehe davon aus, daß Sie
freiwillig hier sind.«
    »Ja.«
    »Niemand hat Sie entführt, Sie
gezwungen...«
    »Niemand hat etwas damit zu
tun.«
    »Es wäre angebracht gewesen,
das

Weitere Kostenlose Bücher