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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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ihres
blumenbedruckten, durchgeknöpften Kleids zurecht. »Fröhlichen Thanksgiving!«
trillerte sie. Die kosmetischen Maßnahmen, denen sie ihr Gesicht unterzogen
hatte, hatten nicht viel genützt. Immer noch waren ihre Wangen grau und von
Tränenspuren verklebt, ihre Augen rot und geschwollen. Dennoch zwitscherte sie:
»Wie schön, daß ihr es geschafft habt! Hereinspaziert und nehmt doch Platz!«
    Es gab keine anderen
Sitzgelegenheiten als die Stühle um den Eßtisch. »Donald, du sitzt rechts von
mir«, sagte Belle, »und Vanessa links. Greggie sitzt neben dir, Vanessa. In der
Küche liegen die Telefonbücher, falls er ein bißchen Auftrieb braucht. Und
Melinda sitzt neben Greggie.«
    Vielleicht war es hier so
üblich: daß sofort gegessen wurde. Doch selbst Vanessa war irritiert. Und der
Ehemann (immer noch im Mantel) stand wie angewurzelt da, bevor er auf seinen
Platz ging. »Sind wir... zu spät gekommen?« fragte er Belle.
    »Zu spät! Überhaupt nicht!«
rief sie und lachte in höchster Tonlage. »Delia, du sitzt neben — «
    Sie verstummte. »Oh!« jammerte
sie. »Delia! Also wirklich!«
    »Was ist?« fragte Delia.
    »Du hast zu viele Plätze
gedeckt!«
    Es stimmte. Delia hatte alles
gedeckt, was sie auf dem Küchentisch vorgefunden hatte, auch das Gedeck für
Henry McIlwain. Belle starrte auf den Stuhl ihr gegenüber.
    »Tut mir leid«, sagte Delia. »Wir
können ja — «
    »Los, hol Mr. Lamb«,
befahl Belle.
    »Mr. Lamb? Von oben?«
    »Los, beeil dich. Wir warten
alle. Sag, wenn er nicht bald kommt, fangen wir ohne ihn an, aber dalli.«
    Delia wußte zwar nicht, was sie
anfangen wollten, denn Essen war weit und breit keines zu sehen. Aber Vanessa,
die mit mehreren Telefonbüchern aus der Küche zurückkam, sagte zu Delia: »Mach
ruhig, ich trage das Essen auf.«
    Delia ging in den Flur, der ihr
sehr still vorkam, nach der Aufregung im Wohnzimmer. Die Katze lief ihr vor die
Füße, als sie die Treppe hinaufging und bei Mr. Lamb anklopfte. »Verzweifelt
kämpft der Lachs gegen die Strömung«, verkündete eine ernste Stimme. Die Tür
öffnete sich einen Spalt, und Mr. Lambs Jammergesicht erschien. »Ja?« sagte er,
und dann: »Oh!«, denn George hatte sich durch den Spalt gewunden.
    Delia sagte: »Belle schickt
mich, ich soll Sie zum Thanksgiving-Essen einladen.«
    »Aber Ihr Tier ist in meinem
Zimmer!«
    »Tut mir leid«, sagte Delia.
»Komm, George.«
    Sie versuchte die Katze
hinauszuziehen, und Mr. Lamb öffnete die Tür unwillig noch ein Stückchen. Delia
bemerkte den nussigen Geruch einmal getragener, ungewaschener Kleidung. Der
eisige Schein des Fernsehers flackerte im Halbdunkel. Sie hob George hoch und
trat einen Schritt zurück.
    »Ich wollte schon mit Ihnen
über die Katzentoilette unterm Waschbecken sprechen«, sagte Mr. Lamb.
    »Die...?«
    »Kann Ihr Tier nicht
rausgehen?«
    »Nicht mitten in der Nacht«,
sagte Delia. Sie drückte George fester an sich und fragte: »Kommen Sie nun zum
Essen oder nicht?«
    »Wann?«
    »Hm... jetzt?«
    »Na gut«, sagte Mr. Lamb.
    Er sah an sich herunter — an
seinem ausgeleierten T-Shirt, der durchgesessenen schwarzen Hose — und schloß
dann trübsinnig die Tür vor ihrer Nase.
    Delia hätte gern gewußt, wie
ein Mann, der so wild auf Tierfilme war, etwas gegen eine harmlose Katze haben
konnte?
    Unten hatte Vanessa alles auf
den Tisch gestellt — Truthahn, Rosenkohl, Preiselbeersoße, Kartoffelbrei aus
Süßkartoffeln, verziert mit Marshmallows, alles noch in der ursprünglichen
Verpackung. Immer noch in ihrer Lederjacke, löffelte sie die Füllung aus dem
Puter. Greggie rutschte auf dem Telefonbuchstapel hin und her; Daumen im Mund,
sah er mit schweren Lidern seiner Mutter hinterher. Zeit für sein Schläfchen.
    Belle redete mit den Hawsers
über Henry. »Was ich nicht verstehe«, sagte sie gerade, »ist, wann sich das
alles abgespielt hat. Gestern abend haben wir noch in Ocean City richtig toll
gegessen. Dann heute mittag — peng! Ein völlig anderer Mann.«
    »Seine Frau ist sicher heute
morgen wiedergekommen«, sagte Donald Hawser weise. Er hatte seinen Mantel über
die Stuhllehne gehängt und zündete mit seinem silbernen Feuerzeug die krummen
Kerzen an. »Heute morgen beim Aufstehen hat sie sich gesagt: Heute ist
Thanksgiving, und ich bin nicht mal zu Hause. An so einem Familienfest.«
    Delia ließ die Katze herunter
und setzte sich neben Donald. Ein Familienfest, dachte sie, und ich
sitze da und esse mit wildfremden Leuten einen Puter vom

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