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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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aus. Aber irgendwas haben diese Frauen, irgendeine
Anziehungskraft, gegen die ich nicht ankann. Irgendein Geheimnis? Habt ihr alle
ein Geheimnis — das ihr keinem weitersagt?«
    Sie hatte Melinda Hawser
angesprochen, aber Melinda lachte nur schallend und zerkrümelte die Brotreste
auf ihrem Teller. »Hab’ ich recht?«
    »Oh, nein«, antwortete Delia.
»Es ist eher das... na, wie schon? Das Wort aus der Physik. Triebkraftgesetz?«
    »Trägheit«, half Mr. Lamb nach.
    »Genau.« Sie warf ihm einen
Blick zu. »Es hängt damit zusammen, daß Leute meist da bleiben, wo sie sind.«
    »Wenn’s nur das ist«, sagte
Belle, »wieso jettet Katie O’Conell dann mit Larry Watts ab nach Hawaii? Die
weiß, wo’s langgeht! Als Larry Watts hier noch zur Miete wohnte, hat er mich
keines Blickes gewürdigt! Hat beinah ‘nen Bogen um mich gemacht. Einmal hab’
ich ihn auf ‘nen Drink eingeladen, da hat er mich fast wie’n leichtes Mädchen
behandelt!«
    Sie verzog den Mund und hielt
sich die Augen zu. Donald sagte: »Oh, nicht! He!«, und Vanessa sagte: »Ach,
Belle, nicht weinen«, während Mr. Lamb heftig an seiner Nase rieb.
    »Ehrlich gesagt«, meinte
Melinda mit kristallklarer Stimme, »ich weiß sowieso nicht, was Sie überhaupt
mit ‘nem Ehemann wollen.«
    Alle Gäste schwiegen, ließen
sich die Frage durch den Kopf gehen.
    »Wer hat die Ehe erfunden, wer
wohl?« fragte Melinda Greggie. Er schäkerte mit ihr, in der Faust ein fettiges
Puterbein. »Alle reden dir ein, daß es nicht ohne geht, besonders die Frauen.
Deine Mutter, deine Tanten und deine Freundinnen. Dann bist du verheiratet und
stellst fest, wie aufgeblasen er ist und daß er immerzu irgendwas redet, zu
allem seinen Senf dazutun muß, ständig mit seinen triumphalen Arbeitserfolgen
protzt. ›Das hab’ ich Ihnen gesagt, und Dies hab’ ich Ihnen gesagt‹, und wenn
du fragst: ›Was haben sie denn dazu gesagt?‹ kriegst du zur Antwort: ›Oh, das
weißt du doch, aber dann habe ich’s ihnen gegeben, habe ihnen die Meinung
gesagt, ihnen den Marsch geblasen‹, ich, ich und nochmal ich. Und wenn du das
deiner Mutter erzählst, deinen Tanten und so weiter, sagen sie alle: ›Ja, ja,
die Ehe ist eine Landplage.‹ Aber wenn ihr so denkt, möchte ich dann fragen,
wieso habt ihr das nicht vorher erzählt. Wo wart ihr, als ich mich verlobt
habe?«
    »Haha«, sagte ihr Ehemann und
sah in die Runde. »Alle denken, du meinst unsere Ehe, Schätzchen.«
    Alle warteten, doch Melinda
spießte nur einen Rosenkohl auf.
    »Oh«, versicherte ihm Belle,
»wir würden so etwas nie denken.« Sie saß jetzt kerzengerade, die Tränen auf
ihren Wangen fast getrocknet. »So ein Prachtmann wie Sie. Natürlich würden wir
das nicht.« Zu den übrigen gewandt, sagte sie: »Donald und Melinda sind Kunden
von mir. Sie haben das frühere Haus der Meers gekauft — ein wunderbares Haus.
Donald ist leitender Angestellter in der Möbelfabrik.«
    Melinda kaute geräuschvoll
ihren Rosenkohl, oder vielleicht schien es auch nur so, weil es sonst im Zimmer
so still war.
    »Mrs. Meers ist schon im
Altersheim«, sagte Belle, »aber Mr. Meers wohnte noch da. Hat uns persönlich
durchs Haus geführt; hat uns gezeigt, wie die Müllpresse funktioniert. Sagte:
Hier in der Tiefkühltruhe liegen hundertvierundvierzig Eiweiß, die kriegen Sie
gratis dazu.«
    »Die Herrschaften haben immer
selbst Mayonnaise gemacht«, vermutete Mr. Lamb.
    Belle wollte weitererzählen,
unterbrach sich und musterte ihn.
    »Sie haben keinen Bedarf an
Sturmfenstern?« fragte Mr. Lamb Donald.
    »Nicht direkt«, sagte Donald
und sah dabei seine Frau an.
    »Na ja, hab’s mir gleich
gedacht.«
    »Dem Haus fehlt wirklich gar
nichts«, sagte Belle. »Die Meerses haben andauernd was dran getan. Und unser
Donald, Don...«, sie lächelte ihn an, »Don hat das gleich bei der ersten
Besichtigung begriffen.«
    »Melinda und ich führen eine
gute Ehe. Sieben Jahre verheiratet«, sagte Donald und beobachtete immer noch
seine Frau. »Schon im College wußten alle, wir sind ein Pärchen. Den Ruf sind
wir nicht mehr losgeworden: bumms, das Übliche.
    »Ich weiß genau, was Sie
meinen«, sagte Belle.
    »Melinda kennt mich schon so
lange, sie nennt mich noch Hawk! Hawk Hawser«, fügte er hinzu und erwiderte
endlich Belles Blick. »Ich war in der Basketball-Mannschaft. Eine Lokalgröße,
für einen Berufsspieler leider nicht groß genug.«
    »Was Sie nicht sagen!« staunte
Belle.
    »Hawk Hawser«, ließ er die
Worte auf der Zunge zergehen.

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