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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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ein Tischtuch. Delia stellte die
Blumen hin und ging weiter in die Küche. »Belle?« sagte sie.
    Belle lehnte am Spülbecken. Sie
rang die Hände über einer gewaltig gerüschten weißen Schürze, und die Tränen
liefen ihr in Strömen übers Gesicht.
    »Belle? Was ist passiert?« rief
Delia.
    »Er kommt nicht«, schluchzte
Belle.
    »Dein Freund?«
    »Er ist wieder bei seiner
Frau.«
    »Seiner Frau? Das wußte ich ja
gar nicht.«
    »Ja.«
    »Oh, das tut mir leid.«
    Tatsächlich war sie entsetzt,
aber sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Kein Wunder, daß Belle so
erpicht war, respektabel zu wirken! Delia tätschelte sie vorsichtig; vielleicht
brauchte sie Trost? Sie brauchte ihn. Belle fiel Delia in die Arme und stieß
heiße Schluchzer gegen ihre Wange aus.
    »Er war der vollkommene Mann
für mich!« klagte sie. »Er war genau, was ich wollte! Und dann ruft er heute
morgen an und, oh, ich hätte es gleich wissen können, er hat so leise geredet,
rumgenuschelt, als sei er bange, gehört zu werden — «
    Sie löste sich aus Delias
Umarmung und riß ein Papiertuch von der Rolle überm Spülbecken. Sie betupfte
erst ein Auge, dann das andere und sagte: »›Belle‹, flüstert er, ›heute wird’s
nichts. Es ist etwas dazwischengekommen‹, meint er. ›Oh?‹ sage ich. ›Was ist?‹
Denke, er kriegt den Wagen nicht an oder will ‘nen Freund mitbringen. ›Also, es
ist so‹, sagt er, ›Clematis und ich sind wieder zusammen.‹«
    »Clematis ist seine Frau«, riet
Delia.
    »Ja, und das Baby heißt
Primula. Stell dir das vor.«
    »Das Baby?«
    »Ja, und nicht mal im Frühling
geboren! Sondern im Oktober!«
    »Du meinst... vergangenen
Oktober?«
    Belle nickte und putzte sich
geräuschvoll die Nase.
    »Das Baby ist... einen Monat
alt?«
    »Sechs Wochen.«
    »Ach.«
    Belles Schürze war so neu, die
Löcher der Stecknadeln von der Verpackung waren deutlich zu erkennen. Ihre Frisur
war noch ausladender als sonst, und Delia erlebte sie zum erstenmal in einem
richtigen Kleid, wenn sie es recht sah, denn die Beine, die unter der Schürze
hervorkamen, waren in frostigweiße Nylonstrümpfe gehüllt, wodurch sie
pflaumenlila glänzten. Das Gesicht war dagegen eine einzige Katastrophe —
verschmierter Lippenstift, schwarz zerlaufene Wimperntusche und graue
Tränenrinnsale. »Du mußt den anderen absagen«, erklärte sie gerade, während sie
ihre Tränen wegwischte. »Ich kann jetzt unmöglich dieses Essen veranstalten.«
    »Aber alles ist vorbereitet«,
sagte Delia. Sie untersuchte die folienverpackten Aluschalen auf der
Arbeitsplatte, die Tellerstapel und das Besteck auf dem Küchentisch, die leeren
Porzellanschüsseln, die nur noch gefüllt werden mußten. Durch die
Backofenscheibe sah sie den knusprig braunen Puter, obwohl es aus irgendwelchen
Gründen nicht danach roch. »Der Puter sieht aus, als sei er gar«, sagte sie zu
Belle.
    »Er ist gar gebracht worden.
Ich wärme ihn nur auf. Ich mußte ihn über Nacht in den Eisschrank packen.«
    »Also, dann los! Eine kleine
Feier muntert dich bestimmt auf!«
    »Mich muntert nichts auf«,
sagte Belle.
    »Auch gut, dann bleib sitzen,
und ich kümmere mich um alles.«
    »Am liebsten wäre ich tot und
begraben«, sagte Belle und zog einen Küchenstuhl heran. Sie ließ sich
daraufsinken und nahm die Katze auf den Arm. »Ich bin zu alt, um ständig
sitzengelassen zu werden! Ich bin achtunddreißig. Es macht mich fertig, daß ich mit jedem Mann nur einmal ausgehe.«
    Delia gab keine Antwort, sie
suchte ein Tischtuch. Keine Ahnung, wo Belle ihre Tischwäsche verwahrte. Die
Küche war typisch fünfziger Jahre, glänzende nackte Wände und riesige weiße
Elektrogeräte, rostfleckige weiße Metallschränke und Schubladen. Sie zog jede
Schublade scheppernd auf. Die meisten waren leer. Schließlich entdeckte sie
unter der Spüle ein textiles Chaos. »Aha!« sagte sie und schüttelte ein
zerknittertes Damasttischtuch aus. Sie brachte es ins Eßzimmer und breitete es
über den Tisch, stellte die Blumen zurück in die Mitte. »Ich weiß, du hast doch
Kerzenleuchter«, rief sie.
    »Wir haben uns im letzten
Frühling kennengelernt«, sagte Belle. »Ich persönlich habe ihr Haus verkauft.
Sie wollten etwas Größeres für das Baby. Und du wirst es nicht glauben, ich
habe sechs Monate dazu gebraucht, so wie die Marktlage zur Zeit ist.«
    Delia öffnete alle Schubladen
der apfelgrünen Kommode, die im Eßzimmer als Buffet diente. In einem Wirrwarr
von Verlängerungsschnüren fand sie

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