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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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dennoch
zu hart; keine Ahnung, wie sie sich daran je gewöhnen sollte.
    Irgendwo im Haus öffnete sich
eine Tür, schwere Schritte, eine Männerstimme rief etwas, und Noah antwortete.
Gleich würde sie ein anderes Gesicht aufsetzen und zu ihnen gehen. Gleich. Aber
jetzt saß sie noch ein bißchen da, ihre heimatlose kleine Lampe im Arm, und
sammelte Mut.
     
    * * *
     
    Hinten im Haus, von der Küche
nur durch eine Anrichte getrennt, lag, was die Millers das Familienzimmer
nannten. Ein breites, niedriges Sofa stand vor einem Fernsehapparat, an der
Wand ein Büroschreibtisch, und in einer Ecke drei Sessel. Dieses Zimmer wurde
in den kommenden Tagen Delias Reich. (Sie hatte sich immer ein moderneres Haus
gewünscht, ohne Kammern, Ecken und Winkel.) Morgens, wenn sie mit dem
Saubermachen fertig war, setzte sie sich an den Schreibtisch und stellte die
Einkaufsliste zusammen. Dann verließ sie das Haus für mehrere Stunden —
gewöhnlich zu Fuß, obwohl es einen Wagen gab, den sie nehmen konnte.
Nachmittags aber pendelte sie zwischen Familienzimmer und Küche, während Noah
auf dem Sofa Hausaufgaben machte. Abends saß sie mit einem Buch in einem der
Sessel, und Noah sah fern. Manchmal saß auch Mr. Miller vor dem Fernseher —
oder Joel, wie sie ihn nennen sollte — , dann ging sie früh mit ihrem Buch auf
ihr Zimmer. Sie war ein bißchen schüchtern, was Mr. Miller anging; Joel. Die
Situation war immer heikel, formell und zugleich zwangsläufig intim. Aber meist
hatte er noch Termine, oder er arbeitete abends an seiner Werkbank in der
Garage. Vermutlich fand er es auch heikel. Bestimmt war er vorher nicht so
aushäusig gewesen.
    Sie mochten am liebsten
einfaches Essen, einfach zubereitet — Roastbeef, Brathähnchen, Hamburger. Noah
haßte Gemüse, aber er mußte jeden Abend einen Löffel voll essen. Mr. Miller war
vermutlich auch kein begeisterter Gemüseesser, aber er aß pflichtschuldig alles
auf, und hinterher lobte er sie immer: »Das Essen war köstlich, Delia.«
Wahrscheinlich würde er das immer sagen, egal, wie es schmeckte. Bei jeder
Mahlzeit stellte er ein paar höfliche Fragen (hatte sie einen guten Tag? Fand
sie, was sie brauchte?), aber sie spürte, daß er ihre Antworten nicht mitbekam.
Er war innerlich ein todtrauriger Mann, und manchmal, selbst wenn sein eigener
Sohn etwas sagte, herrschte einen Augenblick Stille, bis er sich zusammennahm
und antwortete.
    »Stell dir vor!« sagte Noah zum
Beispiel, »Kenny Moss hat neuerdings einen abgezüchteten Golden Retriever.
Papa, könnten wir auch einen Golden Retriever haben?«
    Lange Pause. Geschirrklappern.
Dann schließlich: »Das Wort ›abgezüchtet‹ gibt es nicht.«
    »Doch, sonst hätte ich es nicht
gebraucht.«
    Und schon steckten die zwei in
einem ihrer Wortgefechte. Delia kannte niemanden, der so genau mit Worten
umging. Er haßte alle »In-Wörter« (das Wort »in« inbegriffen). Er nannte nichts
»toll«, was nicht wirklich verrückt war. Er unterbrach Noah mitten in einem
begeisterten Bericht mit der Bemerkung, daß niemand »auf« Eisessen stehen
könne. Immerhin machte er es halbwegs humorvoll, und das war wohl der Grund,
warum Noah überhaupt noch den Mund aufmachte.
    An Delias Badezimmertür war ein
großer Spiegel, der erste seit der Umkleidekabine vor sechs Monaten, in dem sie
sich in voller Größe sehen konnte; und sie erschrak, wie dünn sie geworden war.
Ihre Hüftknochen sprangen scharfkantig vor, und um den Hals war sie ganz mager.
Also nahm sie sich beim Abendessen reichlich, frühstückte jeden Morgen mit
Noah, und jeden Mittag bestellte sie etwas Nahrhaftes bei Rick-Rack’s, sogar
Krabbenkuchen; schließlich verdiente sie jetzt gut und wußte gar nicht, wie sie
ihr Geld ausgeben sollte.
    Bei Rick gab es auch Barbecue Sandwiches,
mit Essig gewürzt, was Delia besonders mochte. »Wissen Sie«, sagte sie zu ihm,
»vorher hatte ich gar keine Gelegenheit, hier richtig zu essen. Daß Sie
gut kochen, wußte ich, aber nicht wie gut.«
    »Und statt dessen haben Sie
sonntags so lala in diesem Bay Arms gegessen!« sagte er.
    Was wußte diese Stadt
eigentlich nicht über sie?
    Nach dem Mittagessen ging sie
zu Belle gegenüber und besuchte George. Er war beleidigt, daß sie weggegangen
war. Er tauchte gleich auf, als sie kam, dann aber kehrte er ihr den Rücken und
stolzierte davon. »George?« lockte sie. Keine Antwort. Er marschierte ins
Wohnzimmer und verschwand. Delia wartete im Flur, und bald sah sie eine
Schnurrbartspitze unten am

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