Kleine Abschiede
Türrahmen auftauchen. Eine Nase, ein Ohr, ein
vorwurfsvolles grünes Auge. »Georgie-Boy!« sagte sie. Er glitt näher, wischte
mit dem Fell gegen das staubige Holz und zögerte selbst, als er dicht genug
war, um sich streicheln zu lassen.
Warum vermißten Delias Kinder
sie nicht so?
* * *
Überall waren die Straßen mit
silbernen Plastikflittergirlanden und roten Pappmacheglocken dekoriert. Über
Mrs. Lincolns Theke in der Bücherei hing ein Kranz. Vanessa hatte eine rote
Schleife an Greggies Buggy gebunden.
Der Gedanke, Weihnachten bei
den Millers zu verbringen — mit dem armen Noah, der am meisten leiden würde — ,
füllte Delia mit Schrecken. Aber vielleicht feierten sie ja kein Weihnachten.
Vielleicht waren sie jüdisch oder sonst strenggläubig und hatten für so
heidnische Bräuche nichts übrig. Bis jetzt jedenfalls, eine Woche vor
Weihnachten, gab es keinerlei Anzeichen, daß sie sich dieser festlichen
Jahreszeit bewußt waren.
Delia ging hinaus in die Garage
zu Mr. Miller. »Hm hm, Joel?« sagte sie.
Er maß an seiner Werkbank ein Brett
aus, trug einen ausgefransten schwarzen Pullover und eine durchgewetzte
Kordhose. Delia wartete, bis er hochsah — es dauerte minutenlang — , und dann
sagte sie: »Ich wollte wegen Weihnachten fragen.«
»Weihnachten«, sagte er und
schob den Zollstock zusammen.
»Feiert ihr Weihnachten?«
»Ja, doch. Eigentlich«, sagte
er.
Mit »eigentlich« meinte er
wohl, als seine Frau noch da war. Demnach war es ihr erstes Weihnachten ohne
sie. Delia sah, wie sein Gesicht nachdenklich wurde, wie sich die Furchen
seitlich um seinen Mund vertieften. Doch dann sagte er: »Also: Sie wollen
sicher den Tag freihaben. Noah wird bei seiner Mutter sein, und ich bin bei
Freunden in Wilmington eingeladen. Über Neujahr ist keine Schule, wenn Sie
länger in Baltimore — «
»Ich fahre nicht nach
Baltimore.«
Er hielt inne.
»Ich wollte nur wissen, wie Sie
feiern«, erklärte sie. »Haben Sie einen Weihnachtsbaum? Soll ich mit Noah
Geschenke besorgen?«
»Geschenke.«
»Vielleicht etwas für seine
Mutter?«
»Oh, Gott«, sagte er und sank
auf den hohen Hocker, der hinter ihm stand. Er spreizte seine Hand und griff
sich an den Kopf — wie immer, wenn die Lage verzwickt war. »Ja, natürlich, für
seine Mutter und auch für Nat, Ellies Vater. Er und Noah sind dicke Freunde.
Und für mich, wahrscheinlich; dazu sollten wir ihn schon anhalten, oder? Und
ich muß was für ihn besorgen, ach du großer Gott!«
»Ich gehe morgen mit ihm los«,
sagte sie. Sie hatte eigentlich nicht vorgehabt, diesen Mann in Verzweiflung zu
stürzen.
»Morgen ist Samstag. Ihr
Wochenende.«
»Macht nichts.«
So auf seinem Hocker waren ihre
Augenpaare auf gleicher Höhe. Einen Moment schaute er Delia an. Dann fragte er:
»Haben Sie keine Familie in der Nähe? Die Sie am Wochenende besuchen können?«
»Nein.«
Es war typisch für seinen
Zustand, dachte sie, daß ihm offensichtlich nichts von dem Klatsch über ihre
Vergangenheit zu Ohren gekommen war. Wenn es nach ihm ging, war Delia vom
Himmel gefallen. Er hätte sie sicher gern ausgefragt, doch am Ende sagte er
nur: »Also, danke, Delia. Ich glaube, einen Weihnachtsbaum können wir uns
schenken, wenn Noah am Weihnachtstag gar nicht da ist.«
Sie hätten sich eigentlich
alles schenken können, wenn es nach Delia ginge. Doch sie sagte dazu nichts.
Als sie ging, saß Mr. Miller immer noch wie ein Häufchen Elend auf seinem Hocker,
sah fassungslos auf den Zollstock in seinen Händen.
* * *
Noah machte mit ihr alle seine
Weihnachtseinkäufe im Eisenwarenladen — Brent’s dunklem, altmodischen
Eisenwarengeschäft mit dem Holzfußboden, gegenüber von Belle. Noah hatte sehr
klare Geschenkideen, stellte Delia fest. Für seine Mutter wählte er einen
Schraubenzieher mit unterschiedlichen Einsätzen^ schließlich lebte sie jetzt
allein und mußte alles selbst reparieren. Für seinen Großvater, der
Schwierigkeiten beim Bücken hatte, eine lange Zange, eine Art Greifer, mit dem
er gefallene Gegenstände aufheben konnte. Und für seinen Vater ein Instrument,
mit dem man beim Hämmern den Nagel in Position halten konnte. »Papa haut sich
immer auf den Daumen«, erklärte Noah Delia. »Eigentlich ist er kein besonders
guter Handwerker.«
»Was bastelt er eigentlich die
ganze Zeit?«
»Schattenboxen.«
»Schattenboxen?«
Einen Augenblick hatte sie
Charlie Chaplin vor Augen, wie er in seinen ausgebeulten Hosen schattenboxend
wild um sich
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