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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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geht«, sagte er.
    Das dauerte drei Sekunden.
(Noah ging es gut.) Dann brauchten sie ein anderes Thema, also erwähnte Delia
Binky.
    »Wie alt ist sie, schätzen
Sie?« fragte Joel.
    »Oh, fünfunddreißig,
sechsunddreißig...«
    »Also zu jung, um auch dort zu
wohnen. Und ich bezweifle, daß Nat eine Krankenschwester nötig hat. Was hat
Noah über sie gesagt?«
    »Er sagt, sie ist einfach
›da‹.«
    »Hmm.«
    »Naja«, sagte Delia.
»Eigentlich geht es mich nichts an. Ich weiß nicht, wieso ich darauf gekommen
bin.«
    Aber dann wußte sie es, denn
nun herrschte wieder unbehagliches Schweigen.
    »Seine Frau war ein Ausbund an
Tugend«, sagte Joel, während er sich noch ein Brötchen nahm. »Noahs Großmutter,
meine ich.«
    »Oh, wirklich?«
    »Wenn wahr ist, was sie so erzählt.«
    »Oh.«
    »Ich konnte diese Frau nie
ausstehen. Immer hat sie sich eingemischt. Stellte immer penetrante Fragen nach
der Nützlichkeit ihrer Geschenke. Braucht ihr dieses Dingsda auch? Warum sehe
ich dich nie in diesem So-wie-so.«
    Delia lachte.
    »Also, wenn Binky seine
Geliebte ist«, sagte Joel — Delia zuckte zusammen bei dem unverblümten,
unumwundenen Wort — , »wünsche ich ihm noch viel Kraft. Er hat ein bißchen
Glück verdient.«
    »So habe ich das nicht gemeint
— «
    »Warum nicht? Er ist erst
siebenundsechzig. Hätte er seine verdammten Rückblenden nicht, säße er sicher
noch in seinem Segelboot.«
    Delia hatte nicht gewußt, daß
Nat Segler war, aber es war unschwer, sich vorzustellen: sein fahriger Umriß an
Deck, überall zugleich.
    »Sie betonte gern, sie sei
immer für jeden da«, erinnerte sich Joel. Er war wieder bei Noahs
Großmutter. »Der erste Mensch, den ich so etwas habe sagen hören, obwohl es
weiß Gott gängig genug ist. Ich bin immer für meine Töchter da«, spottete er. »Am liebsten hätte ich gefragt: Wo eigentlich? Ich kann den Satz
nicht ausstehen.«
    Delia hoffte, daß sie ihn noch
nicht benutzt hatte. Doch sie war sich halbwegs sicher.
    »Das und ›durchmachen‹«, sagte
Joel. »Also, außer im wörtlichen Sinn?«
    »Heute hat einer schon etwas
durchgemacht, wenn er seine Kindheit hinter sich gebracht hat.«
    »Und noch ein Wort, das ich
hasse...«
    Wie gut, daß er so eindeutige
Ansichten hatte. Delia brauchte keine Konversation mehr zu machen. Statt dessen
saß sie da und beobachtete seinen Mund, diesen breiten, festen Mund mit den
feinen Mundwinkeln und dem Grübchen mitten auf der Oberlippe, und überlegte,
daß für jemanden, der sich immerzu mit Sprache beschäftigte, er eigentlich
wenig von sich gab.
     
    * * *
     
    Wenn sie nun Mittwoch
nachmittags ins Feinkostgeschäft ging, suchte sie zusätzlich etwas Besonderes
aus — sauer eingelegte Cornichons, Paprikagelee — , kaufte es von ihrem Geld
und brachte es Nat zum Tee mit. »Woher wissen Sie, daß ich solche Sachen mag?«
fragte Nat. »Die meisten Besucher kommen mit Pralinen. Marmelade. Süßkram.«
    Sie erzählte ihm nicht, daß ihr
Vater auch so gern Süßsauer gegessen hatte, denn so alt fand Nat sich noch
nicht, dazu war er zu sehr Kavalier und immer noch zum Flirten aufgelegt. Oft
machte er sich über Senior City lustig, wie zum Beweis, daß er da nicht
hingehörte. »Haus der lebenden Toten« nannte er es. Er behauptete, die Möwen,
die über dem Gebäude kreisten, seien Geier, und die Bewohner des dritten Stocks
nannte er scherzhaft »Die armen Seelen«. Und dann seine Romanze mit Binky...
    Denn Binky war seine Freundin;
Delia hatte keinen Zweifel. Dreimal kam Delia zum Tee, und immer hockte sie in
der Sofaecke und spielte Gastgeberin. Und das vierte Mal, als sie nicht da war,
entschuldigte sie Nat, sie sei in letzter Minute fortgerufen worden. Ihr Sohn
hätte sich einen Zahn angeschlagen, sagte er.
    »Binky hat einen Sohn?« fragte
Delia.
    »Zwei, genaugenommen.«
    »Das wußte ich gar nicht.«
    »Also ist Noah heute unser
Gastgeber.«
    Delia machte es sich auf der
Couch bequem, legte ihren Mantel über die Lehne. Sie betrachtete Noah, der
schwankend den Tee eingoß.
    »Ich wußte nicht einmal von
ihrer Ehe«, sagte sie.
    Sie wählte ihre Worte mit
Bedacht, denn womöglich war sie noch verheiratet. Und Nats Antwort machte sie
auch nicht klüger. »Oh, ja«, war alles, was er sagte. »Mit einem Zahnarzt.«
    Aus einem Einfall heraus sagte
sie: »Na, dann ist der angeschlagene Zahn ja kein Problem.«
    »Genau«, sagte Nat. Er warf ihr
unter seinen buschigen grauen Augenbrauen einen blitzenden Blick zu. Dann ließ
er sich

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