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Kleine Einblicke

Kleine Einblicke

Titel: Kleine Einblicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathilda Grace
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niemand sagen. Ich habe mit einer Krankenhauspsychologin gesprochen und sie meint, ich müsse einfach nur Geduld haben, weil sich ein Trauma nach einem so schweren Unfall nicht von heute auf Morgen verzieht. Sie kennt ähnliche Fälle. Von Menschen, die sich plötzlich an bestimmte Teile ihres Lebens nicht erinnern konnten, aber ich gehöre zu den Glücklichen, die eine wirklich gute Chance haben, dass ihre Erinnerung bald zurückkommt. Fragt sich nur, was 'Bald' genau bedeutet. Einen Tag, ein Monat, ein Jahr?
    Morgen darf ich nach Hause. In ein Haus mit Kindern und einer Hundedame, die ich auch nicht kenne. Cupcake. Verrückter Name. Ich habe mir Bilderalben angesehen, Handyvideos und mir alles Mögliche dazu erzählen lassen, in der Hoffnung, dass es hilft. Ohne Erfolg. Mein Kopf hat dicht gemacht und um ehrlich zu sein, weiß ich im Moment nicht mal, ob ich überhaupt nach Hause will. Was soll ich da anfangen? Mit Kindern, die ich nicht kenne, und einem Leben, das keines ist. Jedenfalls nicht das, was ich kenne. Wie soll ich mich Gabby und Rio gegenüber verhalten? Ich habe ja schon Probleme damit, sie hier im Krankenhaus zu haben.
    Als Rio mich gestern zum Abschied umarmt hat, bin ich sogar vor ihm zurück gezuckt. Ich habe mich so sehr dafür geschämt, aber ich konnte es nicht unterdrücken. Es ging nicht. Ich werde niemals den traurigen Blick vergessen, den Rio mir daraufhin zugeworfen hat, bevor er in Colins Arme geflüchtet ist, der die Geschwister nach Hause gebracht hat, damit Dale noch bei mir bleiben konnte.
    Ich habe eine Stunde in seinen Armen gelegen und geweint. Diese Kinder brauchen uns, auch mich, und ich stoße sie zurück. Ich weiß mittlerweile, wie sie zu uns gekommen sind. Dale hat mir erzählt, dass ihre Mutter an Krebs gestorben ist, dass sie nie einen Vater hatten, dass es auch sonst keine Familie gab und niemand Rio haben wollte, weil er zu alt ist. Wir sind über sie gestolpert, als wir uns über Pflegekinder informiert haben und das Jugendamt uns dabei gefragt hat, ob wir uns vorstellen könnten, gleich zwei Kinder zu uns zu nehmen. Wir haben sie zu uns genommen, haben ihnen erzählt, wie meine Mutter gestorben ist und dass in unserer Familie bereits mehrere Pflege- und Adoptivkinder groß geworden sind. Dale und ich lieben diese Kinder. Zumindest habe ich das vor dem Unfall getan. Jetzt kenne ich sie nicht mehr und ich tue ihnen weh, obwohl ich das gar nicht will.
    Als Noah sich nach seiner Reha entschieden hat, ein neues Leben zu beginnen, weg von seinen Vätern und weg von seiner Familie, von uns, da habe ich ihn nicht verstanden. Ich habe seine Entscheidung akzeptiert, weil deutlich war, dass er dringend Abstand brauchte, aber verstanden habe ich es nicht.
    Mittlerweile sieht die Sache anders aus und ich habe Angst, dass es mir früher oder später genauso geht. Dass ich weggehen muss, um wieder ein normales Leben zu führen. Dass ich Dale und unsere Kids verlassen muss, um irgendwie wieder klarzukommen. Aber ich will es nicht. Das kann doch keine Lösung sein. Es muss auch so gehen. Wie soll ich meine eigene Familie, das Einzige, das mir wirklich etwas bedeutet, hinter mir lassen? Es ist mir unbegreiflich wie Noah das geschafft hat. Wo er den Mut dafür hernahm. Oder war es vielleicht kein Mut mehr, sondern Verzweiflung?
    Werde ich irgendwann genauso verzweifelt sein, wie er es gewesen sein muss, um diesen Schritt zu tun?
    „Tu mir das nicht an.“
    Ich blinzle irritiert, sehe fragend zu Dale. „Was?“ Oh, wir sind ja allein. „Wo sind Tyler und Niko?“
    Dales Blick ist eine Mischung aus Angst und Verbohrtheit. „Schon vor einer Weile gegangen.“ Er beißt sich auf die Unterlippe. „Lass mich nicht allein, Kilian. Die Erinnerungen kommen wieder, es ist doch erst drei Wochen her.“
    Himmel, ich muss laut gedacht haben. „Dale, ich...“
    Was sage ich ihm bloß? Ich weiß doch auch nicht, was morgen oder übermorgen oder nächste Woche sein wird. Ich weiß nur, dass ich es nicht verkraften werde, Rio und Gabby auf Dauer wehzutun. Dasselbe gilt für Dale, meine Väter, meine Familie. Zumindest den Teil, den ich noch kenne. Ich weiß, es sind erst drei Wochen, aber was, wenn es in drei Monaten noch genauso schlimm ist, was dann? Was wird in einem Jahr sein? In zwei Jahren?
    Ich habe panische Angst davor, eines Morgens aufzuwachen und zu begreifen, dass ich mein altes Leben niemals zurückbekomme.
    „Ich liebe dich, Kilian“, flüstert Dale erstickt und vergräbt sein Gesicht

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