Kleine Einblicke
an meiner Schulter. „Egal, was passiert, ich liebe dich.“
Dieses Mal denke ich nicht laut. Dieses Mal sage ich gar nichts. Stattdessen presse ich die Lippen zusammen und umarme Dale so fest ich kann, um gleichzeitig gegen die Tränen zu kämpfen, weil ich es nicht fertigbringe, ihm zu sagen, dass ich ihn genauso liebe. Weil ich einfach nicht weiß, ob unsere Liebe auf Dauer genug sein wird, um dieses Loch zu füllen, das da in meinem Kopf ist und das gerade beginnt, mein Leben zu ruinieren.
- Teil 2 -
Ich stelle die Ketschupflasche etwa zu laut auf den Tisch. „Ach, hör' auf, Dad.“ Colin sieht mich mitfühlend an, was mich erst recht ärgert. „Und lass diesen Blick, ich kann's nicht mehr sehen, beziehungsweise hören. Von wegen Geduld. Drei Monate ist das Ganze her und was ist passiert? Nichts. Meine eigenen Kinder sind Fremde für mich, die sich kaum an mich herantrauen und...“ Ich hole Luft, um mich ein wenig zu beruhigen. „Ich kann's ihnen nicht verdenken. Wie würdest du dich fühlen, wenn du mit einem Menschen unter einem Dach leben musst, der nicht weiß, wer du bist?“
„Ich hätte genauso Angst wie du, Kilian“, sagt Colin und steht auf, als ich seinen liebevollen und verständnisvollen Blick nicht mehr ertrage und mich abwende, um mich mit den Händen an der Arbeitsplatte abzustützen.
Ich kann das einfach nicht mehr länger aushalten. Mein Bein ist verheilt und auch sonst geht es mir wieder gut. Nur diese Leere in meinem Kopf ist immer noch da und es hat sich mittlerweile auch herausgestellt, dass mir Erinnerungen fehlen, die viel älter sind, als die zwei Jahre, wie Adrian zuerst vermutet hat. Es gibt Dinge, die über zehn Jahre her sind, die ich nicht mehr weiß. Und es sind so willkürliche Erinnerungslücken, dass ich mit jedem Tag nur noch unsicherer werde, was mein Leben und meine Vergangenheit angeht.
Ich frage mich immer öfter, ob Noahs Weggehen nicht die bessere Entscheidung gewesen ist, denn im Gegensatz zu ihm, bin ich nicht gegangen, sondern geblieben. Ich bin aus dem Krankenhaus zurück in ein Haus und ein Leben, das mir nur noch zum Teil gehört. Ich habe versucht neu anzufangen, alles wieder neu zu lernen, was ich durch den Unfall vergessen habe. Zum Teil hat es auch funktioniert. Mein Tagesablauf ist wieder derselbe. Ich kenne Rios Schulzeiten und im Kindergarten von Gabby kenne ich auch wieder alle Gesichter. Unser Leben könnte wie immer sein, aber das ist es nicht.
Es gibt Tage, da sehe ich Dale zu, wie er mit den Kinder spielt, den Ball für Cupcake wirft und wie er lacht und glücklich ist. Und ich stehe daneben und komme mir vor wie ein Gast. Wie das berühmte fünfte Rad am Wagen, das nicht dazu gehört.
Meine Angst davor, dass sich das nie ändert, ist mittlerweile so groß, dass sie meine Ehe gefährdet, denn unsere Kinder sind nicht die Einzigen, die sich kaum noch an mich herantrauen. Ich kann es Dale nicht verübeln, dass er Abstand hält. In den letzten Wochen habe ich ihn mehrfach abgewiesen und ihm den Rücken zugekehrt. Er leidet, so wie ich, aber ich kann mich ihm einfach nicht zuwenden. Ich habe es versucht. Ohne Erfolg. Es ist als wäre da eine Mauer zwischen uns, die ich erst niederreißen muss, um ihn zu erreichen. Doch diese Mauer hat nicht Dale aufgebaut, sondern ich. Und jetzt stehe ich vor dieser endlosen Mauer und schaue durch sie hindurch. Ich beobachte Dale und unsere Kinder, wie sie ein Leben führen, zu dem ich nicht gehöre. Das genauso ein Mysterium für mich ist, wie Teile meiner Vergangenheit.
Vor zwei Tagen bin ich beim Einkaufen in der Stadt einem Mann in Colins Alter über den Weg gelaufen, der mich so überrascht ansah, dass ich ihn tatsächlich angesprochen habe, um zu fragen, was los ist, weil mir sein Gesicht rein gar nichts sagte. Er wollte mir zuerst nicht antworten, hat es aber getan, als ich nachhakte. Doch was ich dann erfahren habe; ich wünschte, ich hätte nicht gefragt. Offenbar war mein Leben wilder als mir klar ist, denn ich kannte diesen Mann aus Baltimore. Er hat mir Dinge über mich erzählt, die ich einfach nicht glauben will. Ich kann unmöglich derselbe Mensch sein wie jener, von dem mir dieser Mann auf dem Parkplatz vor dem Einkaufscenter erzählt hat.
„Du musst lernen, damit zu leben, Kilian“, sagt Colin und tritt neben mich. „Es bringt nichts, wenn du dich Tag für Tag aufs Neue verrückt machst. Irgendwann werden die Erinnerungen zurückkommen.“
„Und wenn nicht?“, frage ich leise und sehe
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