Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters
entspricht dem Inhalt am besten, denn es geht vor allem um Kriemhilts Rache.
Die Frauen sind die Hauptfiguren, nicht die Männer, die einander reihenweise umbringen. Das zweite tragende Motiv ist das der Treue: Hagen tötet aus Treue den Helden Siegfried. Für viele Menschen des Mittelalters war Hagen eine positive Figur, sonst hätten sie nicht ihre Söhne nach ihm benannt. Obwohl erschon zu den älteren Respektspersonen zählt –
gemischet was sîn hâr mit einer grîsen varwe,
sein Haar war gemischt mit grauer Farbe (1731) –, ist er immer noch der stärkste Held. Die verschiedenen Treueverpflichtungen gegenüber den westlichen Königen einerseits und dem Hunnen Etzel andererseits bringen Rüdiger von Bechelâren (Pöchlarn, Niederösterreich) in schwierige Konflikte.
Ein interessantes Element in dieser Fassung ist der deutliche Bezug zu Passau, hat doch der vermutliche Auftraggeber Bischof Wolfger von Erla, der 1204 dann Patriarch von Aquileja wurde, einen seiner Vorgänger, Bischof Pilgrim († 991) in die Dichtung hinein verweben lassen, und zwar als Onkel der Kriemhilt. Zum Zeitpunkt, als das Lied entstand, war wieder einmal im Gespräch, aus dem Bistum Passau ein Erzbistum zu machen. Das hatte schon jener Pilgrim zu erreichen versucht.
Kudrun
Auf noch eine Dichtung, in deren Zentrum eine bedeutende Frau steht, ist hinzuweisen: Das vermutlich eine Generation nach dem Nibelungenlied ebenfalls im Donauraum entstandene Epos über Kudrun. Die einzige Überlieferung des Kudrunliedes stammt aus dem Ambraser Heldenbuch, das im Auftrag von Kaiser Maximilian am Beginn des 16. Jahrhunderts vom Zöllner Hans Ried zusammengestellt wurde.
In den ersten beiden Teilen geht es um die Vorgeschichte mit verschiedenen abenteuerlichen Brautwerbungen. Im dritten und Hauptteil weist der Vater Kudruns alle Werber ab. Einer der Werber erzwingt schließlich die Heirat, die aber erst nach einem Jahr vollzogen werden soll. Inzwischen wird Kudrun von einem weiteren Bewerber entführt. Sie widersteht schweren Drohungen und Demütigungen und wird schließlich befreit. Man fand in Kairo eine thematisch verwandte Erzählung, den «Dukus Horant» aus dem 14. Jahrhundert in hebräischen Lettern.
Wir finden also am Übergang vom Ersten zum Zweiten Mittelalter in der erhaltenen Dichtung zwei große Frauenromane vor. Das passt zur Minnethematik und sollte dazu führen, dass die Frauenfiguren in den anderen Dichtungen mehr Beachtung fänden. Das Publikum um 1200 konnte offenbar mit den Figuren starker, aktiver Frauen etwas anfangen. Die Lektüre der Geschichtswerke ergibt, dass es solche Persönlichkeiten in der Oberschicht wirklich gab; sie wurden anerkannt und manchmal gefürchtet.
Tristan
Herausragende Frauenfiguren finden sich auch in einem der wohl berühmtesten Stoffe, jenem von Tristan und Isolde, am besten bekannt durch die Dichtung Gottfrieds von Straßburg. Wie im Lancelot-Zyklus geht es um «unmögliche» Liebe. Im ersten Teil wird von Herkunft und Kindheit Tristans erzählt. Seine Geburt trägt den Makel, dass er von seinen Eltern schon vor der Ehe gezeugt wurde. Sein Vater stirbt noch vor, seine Mutter bei seiner Geburt. Sein Name wird darum mit dem lateinischen
tristis,
traurig, in Verbindung gesetzt. Er wird vom Marschall seines Vaters aufgezogen, dann von Kaufleuten entführt und kommt schließlich an den Hof seines Onkels Marke, der sich in die schöne Gestalt des wohlerzogenen Jünglings buchstäblich «verschaut».
Dieser homoerotische Aspekt ist neben der unmöglichen Liebe das zweite Grenzerlebnis dieser Geschichte. Schließlich mahnen die Höflinge König Marke, endlich zu heiraten, und Tristan wird für seinen Onkel zur Brautwerbung um Isolde ausgeschickt. Deren gleichnamige Mutter gibt ihrer Tochter sicherheitshalber einen Liebestrank mit, damit die Ehe gut begänne. Tristan und Isolde trinken ihn jedoch auf der Rückfahrt zu Marke versehentlich. Tristan begeht einen doppelten Treuebruch: nicht nur, dass er mit der künftigen Frau eines anderen Mannes schläft, dieser ist noch dazu sein Lehensherr. Mit vielerlei Listen halten sie ihre Beziehung aufrecht, bis sie schließlich in einer sagenhaften Liebesgrottelanden. Der Roman Gottfrieds blieb Fragment, das noch im 13. Jahrhundert zwar romantisch, aber eher unbeholfen «fertiggedichtet» wurde.
Abb. 10: Tristan-Teppich aus Wienhausen, 13./14. Jh.,
Ausschnitt (Tristan im Bad bis zur Überfahrt mit Isolde; der mittelniederdeutsche
Text bezieht sich nur auf die
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