Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters
ein vorbildlicher Ritter, dem Aristoteles als sein Erzieher ausführlich erklärt, wie man sich als solcher zu verhalten habe. Die Gestalt Alexanders ist zwiespältig: In einigen Versionen ist er gewalttätig und trinkt. Aus jüdischem Erzählgut wird die Legende übernommen, er habe das irdische Paradies gesucht, sei aber dort abgewiesen worden. In anderen Versionen wird Alexander zur vorbildlichen Herrschergestalt.
Die erste Verarbeitung des Stoffes stammt vom Pfaffen Lamprecht (um 1150), der sich am provençalischen «Roman d’Alexandre» orientierte. Ein Jahrhundert später dichtete Rudolf von Ems (Hohenems in Vorarlberg) einen Alexanderroman, der allerdings nach 21.000 Versen unvollendet abbricht. Für den Böhmenkönig Ottokar II. Přemysl dichtete Ulrich von Etzenbach 1285 ein Alexander-Epos.
Schon das Alexander-Thema führt in den sagenhaften Orient. Diesem widmeten sich viele mittelalterliche Dichter ganz oder teilweise in ihren Erzählungen. Gahmuret, der Vater Parzivals, reist zuerst in den Orient und findet dort eine schwarze Frau, mit der er ein geschecktes Kind bekommt, das später Aufnahme in die Gralsritterschaft findet. Mit seinem Helden Willehalm führt Wolfram von Eschenbach seine Zuhörer noch einmal in den Osten. Willehalm entführt von dort seine geliebte Frau Arabel. Aus beiden Romanen geht eine erstaunliche Toleranz des Dichters gegenüber islamischen Adeligen hervor.
Außerdem gibt es eine große Zahl an phantastischen Reiseromanen, die offenbar großes Interesse fanden. Aus den vielen Szenen und Werken seien hier wieder exemplarisch ein paar herausgegriffen.
Noch in das 12. Jahrhundert datiert man eine in Bayern entstandene Geschichte über die Brautwerbung König Rothers um die Tochter des oströmischen Herrschers Konstantin. Es haben sich zwar nur eine Handschrift und ein paar Fragmente erhalten, aber ab dem 13. Jahrhundert gehört König Rother zum Reigen der berühmten Helden, wenn solche aufgezählt werden.
Wer erwartet, darin etwas über Byzanz, wenigstens die westliche Sicht, zu erfahren, wird enttäuscht, obwohl mit den Ehen Bertas von Sulzbach, die Kaiser Manuel I. († 1180) heiratete, und Theodoras, der Frau des Babenbergers Heinrich II. († 1177), wechselseitige Verbindungen auch außerhalb der Kriegszüge der Kreuzfahrer dokumentiert sind. Außerdem führten die bayerischen Andechser, auf die es einige Hinweise in der Dichtung zu gebenscheint, den Titel «Herzog von Meranien», womit man damals etliche Länder an der Ostküste der Adria meinte. Sie waren also fast «Nachbarn» des Byzantinischen Reiches. Man müsste dementsprechend in Teilen der mitteleuropäischen Oberschicht Kenntnisse der byzantinischen Verhältnisse vermuten. Aber der «König Rother» bleibt ein märchenhafter Roman, der wohl im Laufe seiner mündlichen Weitergabe zahlreiche Umformungen erlebt hat.
«Der guote Gerhart» des schon genannten Rudolf von Ems († 1254) ist ein Kölner Kaufmann, den es auf eine abenteuerliche Reise verschlägt. Demut und Klugheit des Bürgers werden ganz bewusst der höfischen Welt gegenübergestellt. Noch abenteuerlicher sind «Leben und Abenteuer des großen Königs Apollonius von Tyrus» vom Wiener Arzt Heinrich von Neustadt, um 1300 entstanden. Der Roman wurde, so heißt es im Text mehrfach, in Teilen vorgelesen. Es gibt illustrierte Handschriften davon aus dem 15. Jahrhundert.
Das Orientbild der meisten mittelalterlichen Autoren ist ungefähr so realistisch wie das eines Karl May. Auch viele Berichte von Kreuzfahrern, Pilgern und Händlern scheinen den «Touristenblick» zu repräsentieren, der nur wahrnimmt, was man ohnehin schon kennt oder erwartet. Die Stärke dieser Thematik dürfte in der Möglichkeit zur Projektion von Wünschen, Träumen und Sehnsüchten gelegen sein, angeregt durch die Luxusgüter, die aus dem Orient importiert worden sind. Insofern ist sie kulturgeschichtlich doch sehr interessant.
Geistliche Dichtung
Abschließend sei ein Blick auf die volkssprachliche Bildungsliteratur geworfen. Auch hier handelt es sich zuerst um Vortrags-, später um Lesetexte, wobei in der Praxis anzunehmen ist, dass aus den umfangreichen didaktischen Werken der Spätzeit nur Ausschnitte von Lehrpersonen vorgelesen worden sind.
Geistliche Literatur ist schon sehr früh überliefert, was auch damit zu tun hat, dass solche Themen in den Klöstern eine weit größere Chance auf Verschriftlichung und Aufbewahrung hatten als weltliche Texte. Eine erste Gruppe
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