Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters
entstand im Zuge der karolingerzeitlichen Mission, wie das Evangelienbuch Otfrids von Weißenburg († 875). In der lateinischen Widmung dieser Dichtung hadert der Autor damit, wie schwer es sei, eine unkultivierte Sprache zur Schrift zu bringen. Was herauskam, ist nicht die Wiedergabe einer gesprochenen Sprache, sondern eine Kunstsprache, die sich eignete, von Sprechern verschiedener regionaler Dialekte verstanden zu werden.
Besonders interessant ist dabei, wie die biblische Welt an das Verständnis seiner Zeitgenossen angepasst und dafür umgewandelt wird und welche Fachbegriffe dabei verwendet werden. Daher sind geistliche Dichtungen oft wichtige Quellen für die frühmittelalterliche Kultur und Verfassung. Die im 9. Jahrhundert entstandene altsächsische Bibeldichtung «Heliand» bezeichnet z.B. Pilatus als
iro hêrron bodo fan Rûmuburg
(5125f.), des Herrn Bote von Romburg. «Bote» ist in diesem Fall der karolingische «Missus dominicus», der Herrenbote; der «Herr» ist der Kaiser.
Nach und nach entstand ein Repertoire geistlicher Dichtungen, das in einer modernen Ausgabe für das 11. und 12. Jahrhundert drei große Quartbände füllt. Dieses war meist für Klosterinsassen, die kein Latein beherrschten, konzipiert, wurde aber auch für die Laienbildung verwendet. Dadurch können wir verfolgen, wie sich die deutsche Sprache verfeinerte, lange bevor wir weltliche Texte er halten haben.
Diesem Zwischenfeld verdanken wir die Zeugnisse einer der ältesten Dichterinnen in deutscher Sprache, Frau Ava, die ihre Texte im Auftrag ihrer beiden Söhne – wohl Geistliche – um 1120 verfasste. Darunter befindet sich auch eine Sittenlehre ihres eigenen adeligen Standes:
Sô wirdet der vil guot rât, die die werlt
gezogenlîhen hânt,
die gotes nie vergâzen, dô si ze
wirtscefte sâzen.
doch wil ich iu sagen da bî, wie der
leben sol getân sîn.
Si sulen got minnen von allen ir sinnen,
von allem ir herzen, in allen ir werchen.
si sulen wârheit phlegen, ir almuosen
wol geben,
mit mâzen ir gewant tragen,
mit chûske ir ê haben,
bescirmen die weisen, die gevangen
lôsen.
si sulen den vîanden vergeben, gerihtes
âne miete phlegen,
den armen tuon gnâde, die ellenden
vâhen.
si sulen ze chirchen gerne gên. bîhte
unde buoze bestên.
Swer niht vasten nemege, der sol sîn
almuosen geben.
So sind die gut beraten, die die Welt in
anständiger Weise besitzen,
die Gott nie vergaßen, wenn sie beim
Festmahl saßen.
Doch will ich euch dabei sagen, wie
man leben soll:
Man soll Gott lieben von ganzem
Herzen, in allen Taten,
man soll die Wahrheit achten,
ordentlich Almosen geben,
sich nicht übertrieben kleiden, eine
anständige Ehe führen,
die Waisen beschirmen, die
Gefangenen auslösen,
den Feinden vergeben, bei Gericht
keine Bestechung annehmen,
zu den Armen gnädig sein, die
Fremden aufnehmen,
gerne zur Kirche gehen und sich der
Beichte und Buße unterziehen.
Wer nicht fasten kann, soll wenigstens
Almosen geben.
Ava, Das jüngste Gericht vv. 195–226
Besonders für geistliche Frauen, von denen weniger als bei den Männern lateinische Bildung zu erwarten war, wurden spirituell und sprachlich hoch stehende Texte verfasst, z.B. das St. Trudperter Hohelied, wohl für Nonnen des steirischen Klosters Admont. Im sogenannten Nonnberger Gebetbuch wird das Jesuskind angerufen: «O Herr, der Du Deine Mutter angelächelt hast …» Die geistlichen Frauen werden also in ihrer Spiritualität ernst genommen, aber man kommt auch ihrer Emotionalität entgegen, zumal gerade in Admont etwa ein Drittel erst in fortgeschrittenem Alter, nach dem «Familiendienst», eingetreten ist.
Der schon öfter genannte Rudolf von Ems mag nicht der größte Dichter gewesen sein, repräsentiert aber mit seinen Werken am besten das Interesse der Adelswelt, für die er schreibt, in seinem Fall der Grafen von Montfort. Wie erwähnt (S. 71), hat er auch einen Roman mit geistlichem Inhalt geschrieben. Der Stoff der Dichtung «Barlaam und Josaphat» hat eine lange Geschichte und geht – was Rudolf sicher nicht bewusst war – letztlich auf Buddha-Legenden zurück. Inhalt ist die Bekehrung eines heidnischen Prinzen durch einen Mönch gegen die Widerstände seines Vaters. Das für uns heute recht langweilige Epos scheint wegen der ausführlichen Darstellung der christlichen Lehre im orientalischen Ambiente recht beliebt gewesen zu sein.
Eine rührende Nachdichtung apokrypher biblischer Geschichten – d.h., dass sie zwar wegen ihres erbaulichen Charakters
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