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Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters

Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters

Titel: Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Brunner
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Zeit lang bei einem Gönner, um ihre Schöpfungen zu Pergament zu bringen.
    Die Vermittlung von Literatur erfolgte bis ins 13. Jahrhundert vorwiegend mündlich. Erst danach entstand auch unter Laien allmählich eine Lesekultur. Damit fielen viele epische Bauelemente weg, die ein Zuhörer braucht, um dem Vortrag folgen zu können, wie die typischen Wiederholungen und Leitmotive. Die Handlung darf auch komplizierter werden, wenn man vor- und zurückblättern kann.
    Die Vortragenden konnten ihre Texte den Erwartungen ihres Publikums anpassen. Das geschah z.B. durch den Hinweis, dass einer der Helden zu den Vorfahren des Hauses gehörte, in dem man sich gerade befand. Manche Dichtungen sind ohne echten Schluss überliefert, was freilich auch Absicht gewesen sein kann. Das althochdeutsche Hildebrandslied aus dem 9. Jahrhundert bricht in der einzigen vorliegenden Überlieferung vor dem Ende ab – vielleicht, weil kein Platz mehr auf dem Pergament war, vielleicht aber auch, weil man das Ende offenhalten wollte. Hildebrand war, so die Sage, mit Dietrich von Bern ins Exil gezogen und hatte Frau und Sohn zurücklassen müssen. Bei der Rückkehr trifft er auf eben diesen Sohn, Hadubrand, der inzwischen erwachsen geworden ist. Hadubrand glaubt dem alten Mann nicht, dass er sein Vater sei, und ein Kampf wird unvermeidlich. Aus einer altnordischen Fassung des 13. Jahrhunderts haben wir Hinweise auf einen tragischen Schluss, in dem der Vater als erfahrener Kämpfer den Sohn tötet. Im jüngeren Hildebrandslied, dessen erhaltene Fassungen aus der Zeit des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit stammen, siegt der Vater zwar auch, aber die beiden erkennen einander noch rechtzeitig. Es ist vorstellbar, dass die Vortragenden eines solchen Heldenliedes den Schluss je nach Publikum gestalten konnten. Eine ähnliche Geschichte finden wir übrigens im irischen Prosa-Epos «Der Rinderraub» (S. 78): Darin begegnet der Held Cú Chulainn seinem Sohn Connla, der in der Fremde aufgewachsen ist, am Strand und muss ihn, weil er sich nicht zu erkennen gibt, nach dem Ehrenkodex der Sage töten.
    Bei größeren Epen kann man sich die Vortragsabende wie die Folgen eines Fortsetzungskrimis im Fernsehen vorstellen; bei manchen Dichtungen erkennt man noch die Abschnitte. Die meisten Stoffe waren dem Publikum im Großen und Ganzen bekannt, und der Neuigkeitswert lag in der jeweiligen poetischen «Inszenierung», wie für uns bei den Klassikern im Theater oder bei mehrfachen Verfilmungen desselben Stoffes.
Artus und Gral
    Alle Welt kennt heute König Artus und seine Tafelrunde. Obwohl die Erzählung von Helden der sagenhaften Vorzeit handelt, ist der Stoff erst seit dem 12. Jahrhundert überliefert. In dieser Fassung ist er ein Produkt der höfisch-adeligen Gesellschaft im Hochmittelalter. Die Artus-Geschichte taucht erstmals beim Waliser Geoffroy (Galfrid) von Monmouth († 1155) in seinem phantasievollen Geschichtswerk «Historia regum Britanniae», Geschichte der britannischen Könige, auf. Dort wird Artus zum britischen Nationalhelden stilisiert, der die angelsächsischen Eindringlinge um 500 siegreich bekämpft. Es hat wohl einen historischen Artus gegeben – eine Quelle des 10. Jahrhunderts nennt einen Heerführer dieses Namens, der 537 gestorben sei –, aber der König der Epen und Sagen ist ein Kunstprodukt. Geoffroy hat auch eine «Lebensbeschreibung» des Zauberers Merlin verfasst.
    Der Anglonormanne Wace († nach 1174) verarbeitete wenig später den Stoff in seiner Verschronik «Roman de Brut» – die Briten führten sich damals auf den Römer Brutus zurück, was, so meinten sie, schon der Name belege. Dieses Werk wurde der «Königin der Troubadoure» Eleonore von Aquitanien gewidmet, damals Frau des englischen Königs Heinrich II. Ihm, den die Fürsten von Wales als Oberherrscher anerkannten und der die Herrschaft über die Bretagne erbte, kam die Geschichte, in der von der Wiederkehr des großen Artus die Rede war, zur Propaganda gerade recht. Er ließ sogar Ausgrabungen in der Gegend von Glastonbury durchführen, wo manche das sagenhafte Avalon vermuteten, König Artus’ Begräbnisstätte, und man fand wirklich «vorgeschichtliche» Knochen. In der dortigen Abtei soll sogar der Heilige Gral eine Zeit lang verborgen gewesen sein.
    Bei Wace kommt ein berühmtes, aber von Anfang an missverstandenes Motiv zum ersten Mal vor: die «Table ronde», der runde Tisch. Wace rühmt die Tafelrunde, sie sei absolut egalitär gewesen und die

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