Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters
erste Szene: DO BADDE SE ENE;
VRV ISALDE HELT DAT SVERT • BANIELE DUOCH ENE,
da badete sie ihn; Frau Isolde hält das Schwert. Brangäne wusch ihn.)
Der Tristan-Stoff, von dem vermutet wird, dass er aus keltischem Erzählgut stammt, war im Mittelalter außerordentlich beliebt. Er gehört zu jenen Themen, von denen wir am meisten mittelalterliches Bildmaterial erhalten haben. Von derartigen Fresken in der «Bilderburg» bei Bozen war bereits die Rede (S. 70f.). Es gibt außerdem mehrere Tristan-Teppiche. Alleine im ehemaligen Zisterzienserinnenkloster Wienhausen (Niedersachsen) erhielten sich deren drei. Der älteste vom Anfang des 14. Jahrhunderts zeigt zwischen den Bildzeilen Wappenfriese, so wie die erwähnten Wandmalereien mit dem Neidhart-Thema (S. 71f.).
Wie in Wolframs «Parzival» und Chréstiens «Lancelot» gibt auch dieser Stoff Gelegenheit, einerseits die Ideale der höfischen Gesellschaft ausführlich zu schildern – weshalb man bei der Lektüre darüber mehr lernt als aus manchem Lehrbuch –, aber alle drei Dichter zeigen zugleich die Grenzen und die Brüchigkeit des Systems, indem sie die Handlung auf die Spitze treiben.
Chréstien hat zudem noch einen lesenswerten «Anti-Tristan» namens Cligès geschrieben, in dem sich die Heldin Soredamor zunächstkeinem der beiden Männer hingibt, weder dem aufgezwungenen Ehemann noch dem Geliebten: Ihre Hofdame bereitet ihr einen Trank, der ihrem Mann nur vorspiegelt, mit ihr die ehelichen Freuden zu genießen. Sie muss erst einen Scheintod sterben, ehe sie sich mit ihrem Geliebten vereint.
Herrscherkritik
Ein weiterer Aspekt fällt bei diesen großen Themen auf: Die Könige kommen nicht besonders gut weg. Es steckt in diesen Darstellungen eine beachtliche Portion Herrscherkritik. Das mag damit zu tun haben, dass ihr eigentliches Publikum nicht die Herrscher selbst, sondern die Adeligen gewesen sind, die ihre politische Bedeutung gespiegelt sehen wollten.
Übrigens kam selbst die Gestalt Karls des Großen, die in der politischen Theorie eine so bedeutende Rolle spielt, nicht zu herausragenden dichterischen Ehren, vom Rolandslied abgesehen, dessen Hauptgestalt aber sein Paladin ist, der Markgraf zur Bretagne: Beim Rückzug Karls des Großen aus Spanien gerät dessen Nachhut unter Roland in einen Hinterhalt und verteidigt sich heldenhaft. Die mittelhochdeutsche Version des französischen «Chanson de Roland» (um 1100) stammt von einem Dichter, der sich Konrad der Pfaffe nennt (um 1170). Aus dem 14. Jahrhundert gibt es noch eine nicht besonders bedeutende niederländische Zusammenstellung von Geschichten über den großen Kaiser, genannt «Karlmeinet».
Dietrich von Bern
Eine ganz eigentümliche Sagengruppe des Ostalpenraums rankt sich um die Gestalt des Gotenkönigs Theoderich († 526), in den Sagen Dietrich von Bern genannt. Im Mittelpunkt steht aber nicht der mächtige Herrscher in seiner historischen Gestalt, sondern ein armer Dietrich im Exil. Die Verschriftlichung erfolgte erst im13. Jahrhundert, so dass uns mit Ausnahme des Hildebrandsliedes die gesamte ältere Tradition verloren ist. Wann die Ausstattung der Sage mit Drachen, Riesen und Zwergen – am bekanntesten ist der Zwerg Laurin – erfolgte, wissen wir daher nicht. Wie prominent die Sagengestalt gewesen sein muss, zeigt sich unter anderem darin, dass Dietrich von Bern am Schluss des Nibelungenliedes auftritt. Auf den Fresken außen an der Burgkapelle von Hocheppan in Südtirol dürfte er die «Wilde Jagd» angeführt haben.
Antike, Rom und Orient
Das Interesse an Stoffen aus der Antike war sehr groß und wurde nicht nur in der lateinischen Literatur gepflegt. Hier sei nur auf einige Beispiele hingewiesen.
Eines ist der Eneas-Roman Heinrichs von Veldeke († gegen 1200), die Übertragung eines anglonormannischen «Roman d’Eneas», der seinerseits selbstverständlich auf das antike Epos des Vergil († 19 v. Chr.) zurückgeht. Die mittelalterlichen Autoren haben vor allem die Frauengestalten interessiert: so die karthagische Königin Dido, die von Aeneas auf göttliches Geheiß wieder verlassen wird und die deshalb Selbstmord begeht, und die italische Prinzessin Lavinia, Tochter des Königs Latinus, die bei Vergil nur eine Nebenfigur ist. Am Paar Lavinia und Eneas, die schließlich miteinander glücklich werden und heiraten, wird das ganze Programm der Minne ausgeführt.
Ein zweites Themenfeld stellen die mittelalterlichen Alexander-Dichtungen dar. Aus diesem antiken Helden wird
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