Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters
fest, dass vollkommenes Wissen – außer bei Gott – unmöglich sei, es aber selbstverständlich verschiedene Abstufungen von Plausibilität gebe. Exakte Aussagen könne man nur darüber treffen, was nichtmöglich sei, weil innerlich widersprüchlich. Im Verein mit der heute noch relevanten «negativen Theologie» gelingt ihm ein beachtenswertes Gottesbild: Was Gott sei, übersteige alle Maße und wäre bestenfalls bildhaft, in analoger Rede (vgl. 1 Kor 13, 12, «wie in einem Spiegel», oder Augustinus, Bekenntnisse XI c. 6, 4) auszumalen, aber was er nicht sei, ergebe eine verlässliche Umschreibung.
Sein Interesse für Mathematik mag irritieren, führt aber zu einer bewundernswerten Klarheit der Gedankenführung. Er zeigt sogar Humor, wenn er z.B. mit einem von ihm erfundenen Kugelspiel Gott und die Welt, Ordnung und Chaos erklärt.
Briefliteratur
Briefe waren, von Boten abgesehen (S. 237), das einzige persönliche Medium der Kommunikation über größere Distanzen, das sicher in der Form erhalten blieb, wie es abgeschickt wurde. Seit der Antike gibt es eine reiche Briefliteratur, die sich zur hohen Kunstform entwickelt hat und immer mit der direkten Ansprache spielte: «Mein Brief, geh und berichte dem Freund meinen Kummer und richte ihm auch meine Grußworte aus.»
Offizielle Briefe wurden meist beim Adressaten laut vorgelesen, aber das galt auch für in heutigen Ohren intim wirkende Liebesbriefe. Der heimliche Bote ist eher eine literarische als eine reale Figur. Der literarische Genuss, mit viel literarischem Zierrat aus der Schatzkiste der Rhetorik versehen, wurde geschätzt und erhöhte das Prestige der Angesprochenen. Schreiber und Adressaten sind also meist «öffentliche Personen».
Das lässt sich auch bei den Briefen Hildegards von Bingen zeigen. Ihre Schreiber und Sekretäre verehrten sie sehr. Sie wollten sie daher auch im Latein, das sie nicht sonderlich gut beherrschte, glänzen lassen. Bernhard von Clairvaux hat, wie viele andere, den Schreibern oft nur die Richtlinien vorgegeben und sie dann werken lassen. Dass es sich bei offiziellen Briefen von Päpsten und Kaisernähnlich verhält, ist leicht nachzuvollziehen. Sie sind oft kunstvolle Kanzleiprodukte.
Über die Echtheit der Korrespondenz zwischen Abaelard († 1142) und Héloise († ca. 1164) streiten die Forscher bis heute. Ich meine, dass es ursprünglich reale Briefe gab, dass sie aber für den Zweck der Sammlung (vgl. S. 120) wie üblich ausgewählt und redigiert wurden, vermutlich noch zu Lebzeiten Héloises.
Predigten
Einen nahezu unerschöpflichen Reichtum bietet die Predigtliteratur. Wieder stehen wir vor schon genannten Problemen: Originalität war nicht ihr Ziel, obwohl man bei der Lektüre der geschriebenen Texte vielfach die Persönlichkeit herauszuhören glaubt, wie z.B. Augustinus oder Bernhard von Clairvaux. Gerade von diesen beiden wissen wir, dass sie ihre Texte nachträglich redigierten, was im Übrigen auch Cicero, das große antike Vorbild, mit seinen Reden getan hat. Die erhaltenen Sammlungen dienten meist als Anleitungen und Vorbilder für die Prediger, manche wurden aber bei Gelegenheit wieder vorgetragen.
Bis zum 13. Jahrhundert sind alle Predigtsammlungen lateinisch. Daher ergibt sich die Frage, welche Sprache in Wirklichkeit verwendet wurde. Es kann sein, dass Latein nur die Aufzeichnungssprache war und die Priester ihre Reden in der Volkssprache hielten. Es ist aber auch überliefert, z.B. von Bernhard von Clairvaux, dass es Prediger gab, deren lateinische Texte simultan von Dolmetschern übersetzt wurden und die dennoch die Leute begeisterten.
Ab dem 13. Jahrhundert sind größere Sammlungen deutscher Predigten überliefert, aber die Deutungsprobleme werden nicht geringer. Die Texte unter dem Namen des großen Predigers Berthold von Regensburg († 1272) sind wohl allesamt nachträgliche Verschriftlichungen, die meist nicht einmal vom Prediger selbst stammen, sondern von Leuten, die beim Hören mitgeschriebenhaben, oder gar von Nachahmern. Die Predigten überliefern dennoch oft eindrucksvolle Zeitbilder, auch wenn es auf den ersten Blick Zerrbilder sind, wie es die akzentuierende Rhetorik einer Predigt erwarten lässt.
Geschichtsschreibung
Die mittelalterliche Geschichtsschreibung interessiert natürlich die modernen Historiker besonders. Zuerst ging es bei der forschenden Auswertung um die Herstellung eines Gerüstes von historischen Daten; dann stellte man sich die Frage, unter welchen Umständen
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