Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters
und mit welcher Intention die Ereignisse aufgezeichnet wurden. Denn
sine ira et studio,
ohne Zorn und Eifer, wie es Tacitus in der Vorrede zu seinen «Annalen» (I 1) behauptet, also ganz ohne Tendenz, hat wohl noch niemand Geschichte geschrieben.
Im Mittelalter gibt es mehrere Typen historischer Aufzeichnungen. Von den Geschichtsdichtungen war an anderer Stelle die Rede (S. 89), hier geht es um die lateinischen Texte. Eine Gruppe ist jahrweise gegliedert, entstanden aus Eintragungen in Kalendern, die sogenannten Annalen (von
annus
= Jahr). Eine zweite sind Verarbeitungen des historischen Stoffes, die Chroniken. Das können auch Stadt- oder Bischofschroniken sein, die manchmal «Gesta» heißen. Diese Bezeichnung kommt von spätantiken Rechtsaufzeichnungen («was geschehen ist»), es kann aber auch im wörtlichen Sinn für «Taten» stehen, wie bei der berühmten Lebensbeschreibung Kaiser Friedrichs I. Barbarossa von Bischof Otto von Freising († 1158). Dessen Hauptwerk ist eine Chronik, die mit der biblischen Geschichte beginnt und im 7. Buch bis zur Gegenwart geführt wird. In manchen Handschriften ist danach für eine Fortsetzung der «Zeitgeschichte» Platz gelassen, denn das 8. Buch handelt von der Endzeit.
Biographien
Eine dritte wichtige Gruppe von Texten für die Geschichtsforschung sind die Biographien, die «Viten». Sie sind oft am schwierigsten zu interpretieren. Bei den wenigen vorhandenen Herrscherbiographien liegt nahe, dass sie meist einen bestimmten politischen Zweck verfolgten. Die berühmteste und lesenswerteste ist jene von Einhart († 840) über Karl den Großen. Sie ist nach dem Vorbild von Suetons († 150) Herrscherbiographien gestaltet und verwendet ganze Textbausteine von diesem Autor. Sie hat also nicht nur die Funktion, von Kaiser Karl zu erzählen und seinen Nachfolgern einen Spiegel vorzuhalten, sondern auch diejenige, das Herrschertum Karls in die Reihe der antiken Kaiser zu stellen. Dennoch ist Einhart ein recht lebendiges Bild gelungen.
Kaiser Karl IV. († 1378), der den Geburtsnamen Wenzel trug und sich als Karl in die Tradition der Frankenherrscher stellte, hat die einzige Selbstdarstellung eines mittelalterlichen Herrschers geschrieben, ein wenig nach dem Vorbild der «Selbstbetrachtungen» Kaiser Mark Aurels († 180). Sie blieb aber Fragment. Auch eine Autobiographie eines Geistlichen besitzen wir, das kostbare Werk «De vita sua», Über sein Leben, des Guibert de Nogent († 1121). Leider gibt es meines Wissens davon keine deutsche Übersetzung; für jeden, der oder die Latein, Englisch oder Französisch beherrscht, ist die Lektüre sehr zu empfehlen, weil sie einen lebendigen Einblick in das Leben an der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert bietet.
Die Heiligenleben haben weniger einen historischen als einen pastoralen Zweck. Heilige sind Menschen, die ihren Lebensweg in der Nachfolge Christi vorbildhaft gegangen sind. Diese Vorbildwirkung ist wichtiger als die geschichtliche Authentizität. Da sie naturgemäß erst rückschauend nach dem Tode gestaltet werden können, steht das dargestellte Leben bereits vollständig im Licht der Heiligkeit. Das geht so weit, dass die Nachfolger und Verehreruntereinander regelrecht konkurrieren, welcher ihrer Heiligen die größeren Wunder getan hätte. Sogar Textelemente aus anderen Viten werden ohne Bedenken wiederverwendet. All das macht es schwierig, ihren historischen Gehalt herauszuschälen. Doch weil der so nebenher mitkommt, ist er oft umso lebendiger. Eine der Musterviten, noch der antiken Erzähltradition verbunden, ist die Lebensbeschreibung des heiligen Martin von Tours, verfasst von Sulpicius Severus (um 400).
Abb. 21: Rudolf IV. (Diözesanmuseum Wien) und Johann II. «der Gute» von Frankreich (Louvre). Die Widergabe der persönlichen Züge deutet auf die beginnende Renaissance.
Fachliteratur
Was die Fachliteratur betrifft, hat man vielfach die antiken Autoren abgeschrieben und studiert, z.B. Agrarautoren wie Cato († 149 v. Chr.), Varro († 27 v. Chr.) und Columella († um 70). Um 1300 hat der Bolognese Petrus de Crescentiis in einem großen Agrarwerk noch einmal das antike Wissen und die Sichtweisen seiner Zeit, der beginnenden Renaissance, zusammengefasst. Viel benutzt wurden ferner die «Zehn Bücher über Architektur» von Vitruv († etwa 10 v. Chr.). Einen besonderen Fall stellt die «Naturgeschichte»von Plinius dem Älteren dar († 79). Von diesem Werk wurden im Mittelalter unzählige
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