Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters
Varianten und Auszüge in allen Sprachen angefertigt, wobei das Publikum ganz besonders an seinen teilweise phantastischen Beschreibungen exotischer Tiere und Menschen interessiert war.
Hinsichtlich der Rezeption der antiken medizinischen Literatur soll hier nur auf zwei Werke verwiesen werden, die auch außerhalb des engwissenschaftlichen Diskurses wirksam wurden. Das unter dem Namen der Trotula überlieferte Handbuch der Frauenmedizin wurde schon erwähnt (S. 35). Auch auf Hildegard von Bingen wurde mehrfach zurückgegriffen. Ich sehe sie als Forscherin, nicht als Mystikerin. Sie betrachtete das Buch der Natur als Gottes erste Offenbarung. Mit ihrer außerordentlichen Intelligenz und Merkfähigkeit war sie imstande, sich in den theologischen Diskurs ihrer Zeit einzubringen, ohne Fehler zu machen, was ihr den höchsten Respekt von Leuten wie Bernhard von Clairvaux und dem Papst einbrachte. Für sie gab es keine scharfen Grenzen zwischen physischem und psychischem Leiden, und ebenso wenig eine scharfe Grenze zwischen der Erforschung der diesseitigen und der jenseitigen «Wege»: Ihr Hauptwerk heißt dementsprechend auch «Liber Scivias Domini», Wisse die Wege der Herrn.
Pragmatische Schriftlichkeit
Nicht selten waren es dieselben Personen, die in der Theorie und in der alltäglichen Praxis dem Kloster bzw. der Kirche oder einem Hof dienten. Das ist nicht außergewöhnlich, denn das Streben nach Wissen war genauso wenig Selbstzweck wie die rationale Verwaltung.
Eine der Stärken der kirchlichen Verwaltung bestand in ihrer Schriftlichkeit. Auch hier war vieles Erbe der Antike, das an die mittelalterlichen Gegebenheiten angepasst wurde. Denen, die von kirchlichen Institutionen abhängig waren, adelige Lehensleute oder Bauern beispielsweise, verschaffte die Praxis der Schriftlichkeiteine relativ hohe Rechtssicherheit und Kontinuität, was schließlich zu dem Spruch führte: «Unter dem Krummstab (Bischofs stab) kann man gut leben.»
Im frühen Mittelalter war die Schriftlichkeit im Rechtsleben stark zurückgegangen. Das wichtigste und effektivste Mittel zur Sicherung eines Geschäfts waren die Zeugen. In geistlichen Institutionen wurden oft nur kurze Notizen über die Zeugen und den Sachverhalt angelegt und fallweise in eigene Bücher eingetragen. Rechtlich gesehen waren das Aufzeichnungen einer Partei, hielten deren Standpunkt fest und hatten selbst keinen Beweischarakter. Den hatte nur die formelle Urkunde mit Siegeln.
Für die Geschichtsforschung ergibt sich das Problem, dass wir durch Rechtsaufzeichnungen eher über umstrittene Fakten informiert werden, während Sachverhalte, die allen klar waren, vielfach gar nicht notiert wurden. Generell gab es im weltlichen Bereich von vornherein weniger Schriftlichkeit, und zudem hatten dort Schriftstücke geringere Chancen auf langfristige Erhaltung. Manche Mächtige nutzten daher Klöster als ihr «Archiv».
Eine Urkunde ist nur ein Element in einem oft langen, teils geheim, teils öffentlich geführten Prozess. Einen vorläufigen Endpunkt dieses Prozesses stellte die Veröffentlichung des Inhalts dar, die sorgfältig inszeniert wurde. Wenn ein Herrscher jemandem vor dem Hof eine Urkunde überreichte, stellte das allein schon eine große Ehre dar, und manchmal kam es auf den eigentlichen Inhalt des Dokuments gar nicht so sehr an. Gerade die Übergabe einer von weit her, z.B. vom Papst, gesandten Urkunde band man gerne in ein feierliches Zeremoniell ein. In manchen Fällen, besonders in Italien, wurden die Urkunden von Notaren in ihre eigenen oder in öffentliche Register eingetragen, mit deren Hilfe jederzeit ihre Gültigkeit und Echtheit überprüft werden konnte.
Bis zum 13. Jahrhundert war die Urkundensprache größtenteils das Lateinische. Aber die interessierte Öffentlichkeit wird wohl viele Fachbegriffe, die immer wieder verwendet wurden, gleichwohlverstanden haben. Ab dem 13. Jahrhundert entwickelte sich eine deutsche Rechtssprache.
Man legte – zunächst in Klöstern, kirchlichen Einrichtungen und an größeren Höfen – zudem Verzeichnisse an: der Besitzrechte (Urbare), der erhofften Einkünfte, der ausgegebenen Lehen, der schutzbefohlenen Leute usw. Die landesfürstlichen Kanzleien, die größeren Herrschaften und die Städte führten später vielfach ebenfalls solche Verzeichnisse.
Die Auswertung solcher Quellen ist nicht einfach, auch wenn man von der puren Schwierigkeit, sie zu lesen, absieht. Oft enthalten sie die Wunschvorstellung der Herrschaft,
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