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Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters

Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters

Titel: Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Brunner
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irischer Herkunft («Schotten» sind im Mittelalter meist Iren) – wurde vielleicht nur deshalb nicht gleich verketzert, weil sein Herrscher, Karl II. der Kahle, dessen Hofschule er leitete, die Hand über ihn hielt. Er war einer der letzten Gelehrten im Westen, die noch Griechisch konnten, und hat griechische Werke übersetzt. In seinem Hauptwerk «Über die Einteilung der Natur» versucht er, platonische Gedanken und christliche zu verschmelzen. Werkzeuge dafür sind die klassische Logik, mit der er sich intensiv befasste, und ein eindrucksvolles selbstständiges Denken.Die Schöpfung ist ihm eine Selbstentfaltung, ein Ausatmen Gottes, ihr Ende das Wiedereinatmen. Im 13. Jahrhundert hat man diese Sichtweise als eine Art Pantheismus gebrandmarkt, aber das zeigt auch, wie lange sein Denken lebendig blieb.
    Zu den zeitlos «radikalen», im wörtlichen Sinn an die Wurzeln gehenden Gelehrten zählt Anselm von Canterbury († 1109), der aus Aosta stammte. Er benutzt kompromisslos jenes Instrument, das Gott den Menschen zur Erkenntnis gab, nämlich die Ratio, die Vernunft. Dieser Begriff ist übrigens auch bei Hildegard von Bingen sehr präsent. Mit dieser Ratio versucht er, sich dem Gottesbegriff zu nähern, und das ist auch für moderne Leserinnen und Leser recht aufregend. In langen Passagen erscheint der Name Gottes gar nicht, sondern der Gottesbegriff ist ein Ergebnis der Überlegungen, in die – wenigstens hypothetisch – auch Ungläubige einbezogen werden.
    Ein drittes «Gebirge» mittelalterlicher Gelehrsamkeit, auf das ich hier hinweisen möchte, ist vielleicht das höchste, obwohl der Autor selbst am Ende seines Lebens behauptet haben soll, sein ganzes Werk sei nur Spreu gewesen: Thomas von Aquin († 1274). Bis zum heutigen Tag berufen sich namhafte Theologen auf den Dominikaner als Meister, der in seinen «Summen» das Wissen seiner Zeit für die Predigttätigkeit seiner Mitbrüder und Studenten zusammenfassen wollte.
    Wie der Kirchenvater Augustinus benutzt der Kirchenlehrer Thomas eine dialektische Methode: Er erörtert zuerst das Für und Wider, bis er dann zu einem Schluss kommt. Daher kann man Zitate aus seinen Texten, aus dem Zusammenhang gerissen, als Belege für alles Mögliche heranziehen.
    Thomas arbeitet die ganze Tradition seit den Kirchenvätern auf. Fallweise setzt er einen Schlussstein nach einer langen Diskussion, der zu seinem Kontext passt wie zu einem Gewölbe. Aussagen, die jahrhundertelang heiß umkämpft waren, kann man plötzlich aussprechen. Man kann wohl verstehen, warum viele von diesem Niveau nicht mehr gerne zurückkehren wollten zur mühsamenDarstellungsweise des Ersten Mittelalters. Wer sich um seine Werke bemüht, wird sich dem Urteil der Heiligsprechungskommission (1323) anschließen, die in seinem Gelehrtenleben keine herkömmlichen Wunder fand und feststellte: Seine Bücher sind Wunder genug.
    Als letztes Beispiel sei der Hinweis auf einen Autor gestattet, der wie kein Zweiter die Brücke schuf zwischen mittelalterlichem und modernem Denken: Nikolaus Cusanus († 1464). Der Sohn eines wohlhabenden Moselschiffers aus Kues, gegenüber Bernkastel gelegen, brachte es bis zum Kardinal und gilt als Vollender der mittelalterlichen Philosophie. Er war durchaus begabt bei der Vermittlung in Konflikten und ein engagierter Reformer, aber als Bischof von Brixen scheiterte er an mehreren Fronten. Eine der Gegnerinnen war die Äbtissin von Sonnenburg, Verena von Stuben. Seine Bibliothek ist im Cusanusstift (in Bernkastel-Kues an der Mosel) erhalten; er besaß beispielsweise eine Handschrift von Eriugenas Hauptwerk. Als Humanist erkannte er, dass es sich bei der sogenannten Konstantinischen Schenkung, der Urkunde, mit der Kaiser Konstantin († 337) dem Papst angeblich die Herrschaft im Westen des Römerreiches zugestanden habe, und anderen angeblich aus der Antike stammenden Texten um Fälschungen handelte.
    Zwei seiner Gedankengänge muten erstaunlich modern an: Die Idee von der
Coincidentia oppositorum,
dem Zusammenfall des Gegensätzlichen, entsprang bei ihm der Mathematik, erscheint aber als Vorwegnahme moderner Physik. Das Prinzip wird auch, abgelöst von seinem Schöpfer, in der Alltagspsychologie angewandt, wenn es so scheint, als ob die schärfsten Gegner in Wirklichkeit ganz ähnliche Ziele verfolgten.
    Wichtiger noch ist der Gedanke von der
Docta ignorantia
(1440), dem gelehrten Unwissen. Fast wie in einer modernen konstruktivistischen Erkenntnistheorie stellt der Cusaner

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