Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters
päpstlichen Höfe in Rom und – zeitweise – in Avignon liest man von Zeitgenossen viel Kritik. Sie betraf die moralische Seite der Hofgeistlichkeit, die Notwendigkeit, gute Beziehungen zu haben oder sich zu beschaffen, wenn man etwas erreichen wollte, und die Gebühren, die für jede Amtshandlung erhoben wurden.
Musik
Musik ist ein bestimmendes Element aller Höfe. Aber was ist Musik? Ist das, was Wolfram von Eschenbach über den Einzug Gahmurets, des Vaters Parzivals, dichtet, Musik oder Lärm gewesen?
Höfslîchen durch die stat
der helt begunde trecken,
die slâfenden wecken.
Vil schilde sach er schînen.
Die hellen pusînen
mit krache vor im gâben dôz,
von würfen und mit slegen grôz.
Zwên tambûre gâben schal:
Der galm übr al die stat erhal.
Der dôn iegoch gemischet wart
mit floytieren an der vart:
ein reisenote si bliesen.
Nu sulen wir niht verliesen,
wie ir hêrre komen sî:
Dem riten videlaere bî.
Mit Pracht hielt da der Held seinen
Einzug in die Stadt und weckte alle, die
noch schliefen. Viele Schilde sah er
blinken. Es schallten vor ihm mit
großem Getöse Posaunen. Zwei
Tambure warfen ihre Schlegel und
machten viel Krach mit ihren
Trommeln: Über die ganze Stadt hallte
der Lärm. Doch wurden in das Lied
auch andere Töne eingemischt von den
Flötenspielern, die im Zug mitritten;
die spielten eine Kriegsmusik. Wir
dürfen aber nicht vergessen, auch von
ihrem Herrn zu reden und wie der da
eingezogen ist: Bei ihm waren die
Fiedler.
Wolfram, Parzival 62, 26–63, 12,
Übersetzung nach Knecht. Vgl. ebenda 19,
6–12.
Jedenfalls war das, was man hörte, sorgsam inszeniert. Der Held ist einer, der «Lärm» machen darf. Die Flötisten bezeichnen seinen Beruf als Krieger. Die Fiedler stehen für seine höfische Zucht. Es ist also anzunehmen, dass sie neben den Pauken und Trompeten durchaus zur Geltung kamen, auch wenn einem dabei vielleicht der Spruch Wilhelm Buschs einfällt: «Musik wird oft nicht schön empfunden, weil sie stets mit Geräusch verbunden.»
Aber eben das ist auch ein Aspekt der Musik: Wer beherrscht den Klangraum (vgl. S. 103)? Das kann tatsächlich Lärm sein, den die einen machen dürfen, während er bei anderen beanstandet wird. Bei der Kirche sind es die Glocken, die den Tagesablauf anzeigen, bei Umzügen eine entsprechende Instrumentalmusik oder – vor allem im geistlichen Bereich – Gesang. Auch in der Kirche sind es vor allem die Stimmen; die Orgel ist im Mittelalter noch nicht weit verbreitet.
Die Ausbildung in Musik war sowohl bei Geistlichen als auch bei Weltlichen von außerordentlicher Bedeutung. Die Schule des Hörens war zugleich eine Schule der Orientierung und des Entzifferns der klanglichen Botschaften. Dass diese Fähigkeit eine wichtige Rolle spielte, galt für die Kirche, wo der wichtigste Teil der geistlichen Handlungen, wie erwähnt, lange Zeit hinter dem Lettner stattfand (vgl. S. 100); das galt auch für den Hof, wo nicht nur der kleine Kreis um die Führungsfiguren Bescheid bekommen sollte; und das galt schon gar für die Schlacht, wo Boten allein zu gefährdet und zu langsam gewesen wären.
Außerdem ist Musik Trägerin von Texten. Das beginnt mit der Hörbarkeit: Eine gut ausgebildete Stimme kann einen Text in einer Kirche, einem Saal bei Hofe, ja sogar über einen Marktplatz hörbar und verstehbar vortragen. Urkundentexte wurden, das ist ausdrücklich überliefert, «gesungen»,
alta voce,
mit gehobener Stimme. Das geht weiter mit der Akzentuierung und Färbung: In Theater und Film wird die Begleitmusik heute noch benutzt, um die Erwartungshaltung des Publikums zu lenken. Der Sänger inszeniert den Text mit seiner Stimme und seinem Begleitinstrument. Das reicht bis dorthin, wo die Musik eine eigene, verbal gar nicht ausdrückbare Botschaft sendet, die von vielen Menschen als besonders emotional empfunden wurde und wird.
Vor allem bei der Lyrik müssen wir uns immer wieder vor Augen halten, dass der Text allein nur ein Element der Botschaft bietet. Ob ein Lied ernst, sentimental oder spöttisch gemeint ist, kann erst im Vortrag mit musikalischer Begleitung nachvollzogen werden.Diese Texte wurden nicht nachträglich «vertont», sondern mit dem Ton «geboren». Oft wurden schon bekannte Melodien verwendet, wodurch sich für die damaligen Zuhörerinnen und Zuhörer ein weites Feld an Assoziationen ergab.
Umgekehrt erscheinen uns Huldigungstexte oft stereotyp, öde, ja unglaubwürdig. Sie sind aber, in entsprechendem Vortrag und besonders mit Musik,
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