Kleine Luegen erhalten die Liebe
er sich auf der Zugtoilette übergeben und drei SMS von Karen erhalten hatte: Bist du schon im Zug? Was macht der Kater? Als sie ihm auch noch schrieb, was sie gerade zum Tee aß, hatte Fraser genug davon und schaltete das Handy ab.
Immerhin jedoch hatte er ihr am Ende die Wahrheit gesagt; höflich und wie ein perfekter Gentleman. Zumindest das.
»Leider« (diese Wortwahl bereute er jetzt schon, denn reichte man manchen Leuten den kleinen Finger, nahmen sie gleichdie ganze Hand) »kann ich nicht den ganzen Tag hier herumhängen, weil ich zu einem Treffen mit meinen Freunden von der Uni fahre – wir treffen uns jedes Jahr.«
Alles wahr und nicht gelogen. Doch selbst die Wahrheit war zum Eigentor für ihn geworden, als Karen sich auf einen Ellbogen stützte, langsam den Kopf hin und her wiegte und ihn mit diesem Blick – diesem verliebten Blick – ansah und sagte: »Weißt du was? Das überrascht mich kein bisschen. Ich kann sehen, dass Fraser Morgan ein Mensch ist, der, wenn er erst einmal dein Freund ist, ein Freund fürs Leben ist. Verstehst du, was ich meine?«
Oh, Herr im Himmel!
♥
»Also das ist Ollie. Ollie, das sind meine Freunde …«
Fraser schlitterte buchstäblich in das Merchants hinein und fand seine Freunde in der hintersten Nische, als Anna gerade einen neuen Freund/Bettgefährten/zukünftigen Ehemann vorstellte – man wusste nie, was man zu erwarten hatte, was Spanner anbetraf.
Ollie, dachte Fraser, als er in dem bogenförmigen Eingang zu der Nische stand. Sie heißen immer Ollie, und ich wette, er arbeitet im Medienbereich und wohnt in Ladbroke Grove.
Er brauchte ein paar weitere Sekunden, um die tatsächliche Situation zu registrieren. Spanner hatte irgendeinen Idioten in hautengen roten Jeans – zweifellos ihre Eroberung der letzten Nacht, ein Typ, von dem keiner eine Ahnung hatte, wer er war – zu Livs Geburtstagstreffen mitgebracht? Von einer Sekunde zur anderen erfasste Fraser eine düstere, bittere Stimmung. Sie brach über ihn herein wie eine Tonne Steine und beinhaltete nicht nur Wut Livs wegen und Empörung überdie Respektlosigkeit Annas, sondern vermischte sich auch mit einer schrecklichen, wirklich schrecklichen Woge der Selbstverachtung bei der hässlichen Erkenntnis seiner eigenen Doppelmoral, als er an sein nächtliches Treiben dachte.
Was Anna getan hatte, erschien ihm unverschämt, aber war das, was er selbst getan hatte, etwa besser? Und diese Leute waren seine Freunde, seine besten und ältesten Freunde, die ihn nur anzusehen brauchten, um Bescheid zu wissen.
Niemand sagte Ollie Hallo, der die grässlichste Frisur hatte, die Fraser je gesehen hatte: rötlich pink gefärbt und von allen Seiten ins Gesicht gekämmt, sodass er aussah, als hielte ihn eine riesige Krebsschere im Schwitzkasten.
»Okay, voll cool … dann, ähm, geh ich mal zur Bar hinüber«, sagte Ollie schließlich zu niemand Bestimmtem.
Anna streichelte seinen Arm, als wäre er ein Kater. »Kann ich bitte einen Wodka Lemon haben? Mit frisch gepresstem Limonensaft, nicht mit diesem Zeug aus der Flasche?«, fragte sie mit einem Blick unter halb gesenkten Wimpern hervor, und Ollie nickte und hielt ihren Blick viel länger fest als nötig, bevor er sich zur Bar verzog. (Total unangemessen, dachte Fraser. Was glaubt er, wer er ist, um hier sein postkoitales Tänzchen aufzuführen?)
»Du hast es also doch hierher geschafft?«
Fraser starrte noch immer Löcher in Ollies Rücken, als er zum Tisch zurückkehrte und merkte, dass Melody mit ihm sprach.
»Ein Anruf wäre nett gewesen, Fraser. Wir waren alle ganz krank vor Sorge.«
Ha! Das war stark. Und Anna? Warum war niemand sauer auf Anna, die damit beschäftigt war, ihre verschiedenen Taschen wegzuräumen (Anna schien immer eine gute Auswahl an Taschen dabeizuhaben, da sie ständig irgendwo außer Hauszu übernachten pflegte), als wäre nichts geschehen? Anna war schon immer unzuverlässig und egoistisch gewesen, und Fraser hatte ihr stets verziehen, nicht zuletzt, weil Liv ihr immer verziehen hatte. (»Ich verstehe sie, Fraser«, pflegte sie zu sagen, »sie ist im Grunde genommen furchtbar unsicher.«) Diese Unsicherheit glich Anna jedoch mit Mut und Furchtlosigkeit aus, was wiederum Frasers leidenschaftliche Seite ansprach. Sie kam aus einer ehrgeizigen Familie der unteren Mittelschicht, die sich finanziell fast ruiniert hatte, als sie Anna auf eine Privatschule geschickt hatte. Sie und Fraser pflegten eindrucksvolle »hitzige Debatten« zu
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