Kleine Luegen erhalten die Liebe
eintritt, sind die meisten Gäste schon auf dem Weg hinaus. Immerhin ist es Mittwochnacht, also eigentlich nicht die richtige, um drogenmäßig so über die Stränge zu schlagen und mit Mädchen in pelzbesetzten Röckchen zu flirten. Er geht zum Tresen, um zu bestellen, und beobachtet den Massen-Exodus – gehen sie wegen irgendwas, was er gesagt hat? Nein, essind Ehepaare, die nach dem Essen oder Theater zusammen heimkehren, um zu Bett zu gehen, dann wieder aufzustehen, mit der U-Bahn zur Arbeit zu fahren und ihre tägliche Routine wiederaufzunehmen.
Was gäbe Fraser jetzt nicht dafür, eine Routine zu haben! Was würde er heute Nacht nicht dafür geben, mit jemandem nach Hause gehen zu können! Als die Wirkung der Droge gänzlich nachlässt und das lauwarme Bier die seine tut, wird er von einer Welle der Klarheit überflutet, als ernüchterte ihn sogar das Bier. Er ist dreißig, und er will das alles nicht mehr: seine Freunde verlieren, allein in einem Pub herumsitzen. Er überlegt, ob er heimgehen soll. Aber dann würde er die beiden Turteltäubchen durch die Wand hören, und morgen früh wäre es die übliche Tasse Tee in peinlicher Atmosphäre in der Küche, bevor Fashion Fern einen Abgang macht, um nie wieder gesehen zu werden.
Auch das will er nicht mehr, dieses Gefühl, als wäre das Leben – und nicht nur das seine, sondern ihrer aller Leben – ein einziges großes Chaos. Er will sich vollständig, ruhig und wohl fühlen. Und plötzlich erinnert er sich an das Wort »sublim« und jenes seltsame Gespräch über Wordsworth, das er mit Anna in dem stillen Lesesaal der Britischen Staatsbibliothek hatte: dieses Gefühl, als wäre alles gut und richtig. »… das feinerer Betrachtung wert erscheint: Es ist die selige, beglückte Stimmung, in der die Bürde des Mysteriums, das schwere und beschwerende Gewicht der Welt mit ihrer Unbegreiflichkeit und ihrem Unverstand, erleichtert wird.«
Und er versteht das, versteht es wirklich, weil er es vor einem Monat noch gespürt hat, als er zum Lake Distrikt hinaufgefahren war, wo die Berge rechts und links von ihm aus dem Dunkel aufragten und die Bäume einen Tunnel bildeten, dann die spiegelglatte Wasseroberfläche von Bowness und Mia, diean seiner Seite saß. Da hatte sich alles gut und richtig angefühlt.
Er muss mit ihr sprechen. Er muss ihr von diesem unglaublichen Gefühl erzählen. Ja. So gut und richtig hatte sich nichts mehr angefühlt, seit Liv gestorben war.
Aber dann schaut er auf die Uhr: 22 Uhr 55. Wahrscheinlich liegt sie im Bett mit Eduardo … Doch vielleicht muss Eduardo heute Nacht ja arbeiten? Es ist das Risiko wert.
Fraser geht hinaus ins Freie, sucht Woodhouse in seinem Telefonverzeichnis und drückt auf Anruf .
Es klingelt dreimal, dann hört er ihre Stimme: »Fraser?« Die ruhige, gemessene Stimme einer nüchternen Person. Im Hintergrund kann er den Fernseher hören. »Wie komme ich zu der Ehre?«
Fraser räuspert sich. Er ist sich plötzlich nicht mehr sicher, wie er vorgehen soll. Vielleicht sollte er einfach nur drauflosreden und auf das Beste hoffen.
»Tja«, beginnt er. »Ich war gerade in Soho … und es ist nicht spät, Mia, noch gar nicht spät …«
»Es ist elf Uhr abends, Fraser. Normalerweise bin ich um diese Zeit schon tief in meiner REM.«
»R.E.M.? Seit wann magst du R.E.M.?«
Plötzlich lacht sie leise. »REM ist die mittlere Phase des Schlafes, du Blödmann, nicht die Band.«
»Arbeitet Eduardo heute Nacht?«, fragt er und schickt ein stummes Stoßgebet zum Himmel.
»Ja, er macht Inventur und wird nicht vor Mitternacht zurück sein.«
»Ah, dann bist du also allein!«
Eine Pause entsteht. »Bist du betrunken, Fraser?«
»Was? Du liebe Güte, nein! Wofür hältst du mich?«
»Dann werde ich das als Ja betrachten.«
Fraser verzieht das Gesicht. Wieso weiß man nie, wie betrunken man ist, bis man versucht zu sprechen?
»Wo bist du?«, fragt sie.
»Im Moment stehe ich vor einem feinen Etablissement, das als Schnecke und Salat bekannt ist.«
»Wie exklusiv, Frase! Hattest du frittierte Scampi zu deinem Bier? Gott, ich könnte töten für eine Tüte frittierter Scampi … Mit wem bist du dort?«
»Eigentlich war ich mit Andrew Normanton unterwegs, aber er ist heimgefahren.«
»Was, allein?«
»Natürlich allein.«
»Das betrachte ich als ein Nein. Jesus, erzähl das bloß nicht Melody! Was habt Ihr denn heute Abend gemacht?«
»Hm, hauptsächlich in einer eisig kalten Bar herumgestanden und einen
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